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Kursorischer Streifzug durch die Geschichte
der Neurowissenschaften aus neuroethischer
und neurophilosophischer Perspektive

„Wie andere erfolgreiche wissenschaftliche Disziplinen früherer Zeiten produziert die Neurophysiologie gegenwärtig einen weltanschaulichen Überschuss, der sich unter anderem in der Bestreitung menschlicher Freiheit, Verantwortungs- und Schuldfähigkeit äußert. So wie der im Gefolge der klassischen Physik auf-tretende Universaldeterminismus des 18. Jahrhunderts oder der im Gefolge der Darwinschen Revolution der Biologie auftretende soziologische und politische Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts wird nach meiner Einschätzung auch diese Phase einer neurophysiologisch inspirierten Weltanschauung bei zuneh-mender Komplexität der Forschungsergebnisse wieder abfl auen.“ (Julian Nida-Rümelin, 2005)1 1 Einleitung
Nicht zuletzt die Befunde der modernen Neurowissenschaften haben dazu geführt, dass zentrale philosophische Fragen des 19. Jahrhunderts wie der Materialismusdiskurs, die Konzeption von Geist/Materie, Leib/Seele und Willensfreiheit/Determinismus heute erneut intensiv diskutiert werden. Modernisiert hat sich die Terminologie: Physikalis-mus, psycho-physisches Problem, Körper-Bewusstsein-Problem.2 Neuroradiologische Methoden und insbesondere Verfahren der funktionellen Bildgebung ermöglichen nicht-invasive Einblicke in neuroanatomische Strukturen und den Ablauf von Hirnfunk-tionen in vivo.3 Durch diese Verfahren wurde das Interesse an cerebraler Lokalisation psychischer Phänomene neu belebt.
Zunächst wird der neurophilosophische Kontext der cerebralen Lokalisationstheorien aufgezeigt (Kapitel 2.1). Die Tendenz zur reduktionistischen oder eliminativ(istisch)en Neurobiologisierung mentaler Phänomene hat Konsequenzen für den anthropolo-gischen Diskurs. Die Geschichte der cerebralen Lokalisationstheorien wird in ihren Grundzügen skizziert (Kapitel 2.2). Danach werden die modernen bildgebenden Ver-fahren aus medizinethischer Perspektive betrachtet (Kapitel 3). Im Anschluss werden invasive neurochirurgische Interventionen wie Psychochirurgie und Neurostimulation aus medizinhistorischer und -ethischer Perspektive diskutiert (Kapitel 4). Es folgt ein Überblick über die Geschichte der Psychopharmaka (Kapitel 5). Psychopharmakolo-gische Optionen können auch bei Gesunden zur kognitiven und affektiven Leistungs-steigerung eingesetzt werden, was als Neuroenhancement bezeichnet wird. Die ethischen Implikationen von Neuroenhancement werden diskutiert (Kapitel 6). Abschließend wird auf die Libet-Experimente eingegangen, die eine intensive Debatte um die Frage Wil-lensfreiheit versus Determinismus angeregt haben (Kapitel 7). Vertreter eines harten Determinismus und Inkompatibilismus halten die intuitiv vorhandene Willlensfreiheit Arthur Schopenhauer (1788–1860) bezeichnete in seiner Dissertation „Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zu-reichenden Grunde“ das psycho-physische Problem als den „Weltknoten“ und als „das Wunder kat’ exochen“ (Schopen-hauer [1988 a], S. 143).
für eine Illusion und fordern Konsequenzen im Hinblick auf moralische und strafrecht-liche Verantwortlichkeit. Am Ende (Kapitel 8) steht ein skeptischer Ausblick, verbunden mit der Warnung vor einer modernen Hirnmythologie und einer „spekulative[n] Meta-physik“.4 Cerebrale Lokalisationstheorien und
die Physikalisierung des Mentalen

Physikalismus, eliminativer Materialismus
Die Lokalisation von Bewusstsein und Emotionen im Gehirn ist eng verbunden mit dem Versuch einer Naturalisierung des Geistes. Der Physikalismus reduziert mentale Phänomene auf neurobiologische Prozesse.5 Die Konsequenzen einer Reduktion des Mentalen auf neuronale Vorgänge wären beachtlich: Die Neurowissenschaften würden damit zur „Königsdisziplin“. Psychologie, Philosophie und Theologie wären entbehrlich und gingen ganz in der Neurobiologie als der modernen Leitwissenschaft auf. Die ma-terialistische Identitätstheorie, die ein Verhältnis der Identität zwischen mentalen Phä-nomenen und neurobiologischen Prozessen postuliert, und der eliminative Materialis-mus, der dem „Geist“ eine eigene Seinsrealität abspricht, haben Auswirkungen auf den anthropologischen Diskurs und das Konzept der moralischen und strafrechtlichen Ver-antwortlichkeit.6 Gegen eine derartige Materialisierung mentaler Phänomene wird von philoso- phischer Seite Kritik geübt. Bereits Immanuel Kant (1724–1804) hielt den Versuch einer topographischen Lokalisation der Seele, die Suche nach einem „Seelenorgan“, grund-sätzlich für verfehlt. Auf die Schrift „Ueber das Organ der Seele“ (1796) von Samuel Thomas Soemmering, der die Seele im Ventrikel-Liquor lokalisierte, reagierte Kant harsch.7 Er sprach prinzipiell jeglichem Versuch einer Dingfestmachung und topogra-phischen Lokalisation eines „Seelenorgans“ Berechtigung und Sinnhaftigkeit ab. Seeli-sche Vorgänge seien nur durch den „inneren Sinn“ (durch Introspektion) erfahrbar. Eine materielle Verortung der Seele hielt Kant prinzipiell für unmöglich. Die immate-rielle Seele ist nach Kant naturwissenschaftlich nicht erfassbar. Ein naturwissenschaft-licher Erklärungsversuch mentaler Phänomene geht per se schon davon aus, dass men-tale Phänomene materialisierbar seien. Demnach hätte der innere Sinn keine eigene Der materialistische Monismus wird in der gegenwärtigen angelsächsischen Philosophie überwiegend als Physikalis-mus bezeichnet (siehe Kim [2005]). Der eliminativ(istisch)e Materialismus/Physikalismus reduziert mentale Phänomene auf physische (neurobiologische) Vorgänge. Die Existenz eines selbstständigen, irreduziblen Geistigen wird bestritten. Mentales wird mit physischen Prozessen identifi ziert. Die Seinselimination geistiger Phänomene geht einher mit der Ersetzung des mentalistischen und egologischen Vokabulars durch eine rein physikalistische/neurowissenschaftliche Terminologie. Vertreten wurde diese Position von Paul Karl Feyerabend (1924–1994) und Richard Rorty (*1931). Gegen-wärtig wird der eliminative Materialismus im angelsächsischen Kulturraum hauptsächlich von Patricia S. Churchland (*1943) und Paul M. Churchland (*1942) sowie im deutschen Sprachraum von Thomas Metzinger (*1958) vertreten. Eine extreme Form des neurobiologischen Eliminativismus wird von Francis Crick vertreten (The Astonishing Hypothesis, 1994). Am neurowissenschaftlichen und neurophilosophischen Eliminativismus ist der atomistische Fehlschluss zu kri-tisieren. Hierbei wird umstandslos davon ausgegangen, dass aus kleinsten Elementen neuronaler Mikromechanismen auf höherer Ebene ein personaler Standpunkt zusammengesetzt werden könne. Vgl. Sturma (2005), S. 195.
Die materialistische Identitätstheorie postuliert, dass mentale Phänomene mit Gehirnzuständen identisch seien. Die Identitätstheorie wurde Ende der 1950er und in den 1960er Jahren entwickelt. Wichtige Vertreter sind Herbert Feigl (1902–1988) und Ullin Thomas Place (1924–2000). Siehe dazu Goller (2003), S. 110–119, und Schäfer (2005).
Realität, die Seele ließe sich auf physikalische Phänomene reduzieren. Somit wäre das Denken eine physiologische Funktion des Gehirns, wie das Verdauen eine physiolo-gische Funktion des Magens ist.8 Kant geht davon aus, dass das Seelische sich nicht mit physikalischen Methoden erfassen lässt. Wären mentale Phänomene topographisch zu verorten, hätten sie eine physikalische Realität und wären demnach materiell.9 Diese Argumentation geht von der Geschlossenheitsthese aus, wonach jegliche Veränderung im Bereich des Physischen ausnahmslos auf der Basis von Naturgesetzen ablaufen kann.10 Kant erteilt einem derartigen Ansinnen eine grundsätzliche Absage.11 Kant kann als Repräsentant der Differenzthese angesehen werden, wonach zwischen mentalen Phänomenen und physischen Vorgängen ein grundsätzlicher Unterschied besteht.
Die Materialisierung des Ichs wurde nicht nur von philosophischer Seite abgelehnt, sondern aus weltanschaulichen Gründen auch politisch sanktioniert. So verbot Kaiser Franz I. dem Phrenologen Franz Joseph Gall 1801 öffentliche Vorträge, so dass Gall Wien daraufhin verließ und sich auf eine Vortragsreise durch Mitteleuropa begab.12 Begründet wurde dieses Vorlesungsverbot mit dem Vorwurf des Materialismus, der gegen die Grundsätze von Religion und Moral verstoße.13 Vor dem Hintergrund dieses philosophischen Diskurses ist das Konzept einer topo- graphischen Lokalisation mentaler Funktionen zu sehen, das in seinen Grundzügen kurz skizziert wird.
Geschichte der cerebralen Lokalisation mentaler Phänomene
Platon vertrat eine dualistische Konzeption. Er postulierte eine immaterielle, unsterb-liche Seele,14 die mehrfach wiedergeboren werde und vor der Geburt die Ideen schaue (Präexistenz). Er unterschied drei Seelenvermögen (Politeia 434d-441c). Der vernünftige Teil (logistikon) stehe mit dem begehrenden (epithymêtikon) im Konflikt. Der dritte See-lenteil sei der zornartige oder zornhafte (thymoeides).15 Nur der vernünftige Teil sei un-sterblich, die beiden anderen seien erst beim Eintreten in den Leib hinzugetreten. Im Seelenmythos des Phaidros wird die Seele als ein Gespann beschrieben, dessen Wagen-lenker der vernünftige Teil und dessen Pferde der begehrende und der zornartige Teil Genau diese Ansicht vertritt Arthur Schopenhauer. Der Intellekt ist für ihn „als Funktion eines materiellen Organs, ma-teriell“ (Schopenhauer [1985], S. 72). Das Denken sei „physisch, wie die Verdauung“ (ebd., S. 114). „Im metaphysischen Sinn bedeutet Geist ein immaterielles, denkendes Wesen. Von so etwas zu reden, den Fortschritten der heutigen Phy-siologie gegenüber, die ein denkendes Wesen ohne Gehirn gerade so ansehn muß wie ein verdauendes Wesen ohne Magen, ist sehr dreist.“ (ebd., S. 265) Diese physiologische Betrachtungsweise mentaler Vorgänge fi ndet sich bereits bei Cabanis: Er betrachtete das Gehirn als ein Organ, das Gedanken produziere, ebenso wie Magen und Darm verdauen, die Leber Galle sezerniert und Speicheldrüsen Speichel produzieren (Staum [1980], S. 202). Ähnlich formulierte der materialistische Physiologe Carl Vogt 1847, die Gedanken stünden im selben Verhältnis zum Gehirn wie die Galle zu der Leber und der Urin zu den Nieren (Hagner [1997], S. 225, 262, 327 [Anmerkung 116]).
Wolf Singer hält eine Interaktion zwischen einer immateriellen geistigen Entität mit materiellen Prozessen im Gehirn für unmöglich, da Wechselwirkungen mit Materiellem den Austausch von Energie erfordern. Um neuronale Vorgänge beeinfl ussen zu können, müsste das Immaterielle Energie aufbringen. Damit wäre es aber nicht mehr immateriell, son-dern materiell und den Naturgesetzen unterworfen (Singer [2004], S. 38).
10 Sturma (2006), S. 9, Sturma (2005), S. 18. Breidbach (1997), S. 64: „Die Suche nach dem Seelenorgan entspricht dem Versuch einer Materialisierung des Ichs.“ 11 Hagner (1997), S. 78–83, Breidbach (1997), S. 61–64, Oeser (2002), S. 106–109.
12 Breidbach (1997), S. 74.
13 Oeser (2002), S. 119.
14 Zur Unsterblichkeit der Seele bei Platon siehe Ricken (2000), S. 120 ff. Die „Unsterblichkeitsbeweise“ fi nden sich im Phaidon ([1] 69e-72e, [2] 72e-77d, [3] 78b-84b, [4] 102a-107b), im Menon (81a-86b), in der Politeia (608c-611a) und im Phaidros (245c-246a).
15 Görgemanns (1994) übersetzt thymoeides mit zornartig oder zornhaft, während Horn/Rapp (2002), S. 446, vom „mutar- sind.16 Den erkennenden Teil lokalisiert Platon im Gehirn (Timaios 69d), dem er damit eine Führungs- und Kontrollfunktion zuschreibt. Erhard Oeser spricht in diesem Kon-text von einer zephalozentrischen These Platons.17 Die beiden niedrigeren sterblichen Seelenteile werden in der Brust und im Unterleib lokalisiert.
Aristoteles lehnt den Leib-Seele-Dualismus Platons ab. Er bestreitet die Existenz einer immateriellen, körperunabhängigen Seele und schließt die Unsterblichkeit der indivi-duellen Seele aus.18 Dem Gehirn werden empfindende und kognitive Funktionen abge-sprochen. Die Funktion des Gehirns sieht er in der Kühlung des Blutes. Im Unterschied zur zephalozentrischen These Platons vertritt Aristoteles eine kardiozentrische These. Das Herz ist bei Aristoteles das Zentralorgan. Die Kontroverse zwischen zephalo- und kardiozentrischer These fand ihren Abschluss bei Galen, der die aristotelische Auffas-sung des Gehirns als Kühlfunktion ablehnte und die zephalozentrische These vertrat. Auch Alkmaion von Kroton und Hippokrates mit seiner Lehre von der Epilepsie (morbus sacer) als Gehirnkrankheit sind Repräsentanten der zephalozentrischen These.
Im Mittelalter dominierte das Paradigma der Ventrikellehre. Die Ventrikel stellte man sich als drei hintereinander liegende Zellen vor (Dreizellenschema). In der ersten Zelle wurden der sensus communis (Gemeinsinn) und die vis imaginativa (Phantasie, Einbildungskraft) angesiedelt, in der zweiten der Verstand (vis cogitativa) und in der dritten das Gedächtnis (vis memorativa). Die klassische scholastische Ventrikeltheorie wurde in der Frühen Neuzeit von Andreas Vesalius widerlegt, der 1543 an einem Hori-zontalschnitt durch das Gehirn die Topographie der Ventrikel anatomisch korrekt be-schrieb.
René Descartes (1596–1650) gilt gemeinhin als Begründer des neuzeitlichen Dua- lismus. Er lokalisierte die immaterielle Seele (res cogitans) in der Epiphyse (corpus pine-ale). Das Gehirn fasste er mechanistisch auf als ein System von Röhrchen, in denen sich die spiritus animales bewegen.19 Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) setzte in seiner 1747 publizierten Schrift „L’homme machine“ die bei Descartes bereits formulierte me-chanistische Auffassung von der Funktion des Gehirns fort, vertrat aber im Unterschied zum cartesianischen Dualismus einen eliminativen Materialismus: Die Annahme einer Seele zur Erklärung mentaler Phänomene erschien ihm überflüssig.20 Der Wiener Mediziner Franz Joseph Gall (1758–1828) korrelierte neuroanatomische Befunde mit Verhaltens- und Charaktermerkmalen. Gall ging davon aus, dass die Hirn-rinde für die Funktion von zentraler Bedeutung sei. Der Schädel als Abdruck der Hirn-rinde erlaube eine Aussage über die charakterliche Disposition, wobei er von einer na-tivistischen Konzeption des Charakters ausging. Gall entwickelte eine organo-logische 16 Die Trichotomie Platons erinnert entfernt an Freuds Konzeption von Über-Ich, Ich und Es. Begeht man einen mereolo- gischen Fehlschluss und „übersetzt“ das psychoanalytische Vokabular in neurobiologische Termini, dann wären wohl die neuroanatomischen Äquivalente nach der Identitätstheorie die Homunculi Neocortex („Ich“), limbisches System/Amygdala („Es“) und präfrontaler Cortex („Über-Ich“). Siehe Birbaumer (2004), S. 27.
17 Oeser (2002), S. 25 ff.
18 Höffe (1999), S. 140–146.
19 Sturma (2005), S. 19 f., betont, dass Descartes mit seiner Theorie der res extensa auch die Basis des materialistischen Monismus entfaltet hat. Für körperliche Dinge nimmt Descartes ein mechanistisches Weltbild nach Maßgabe der Ge-schlossenheitsthese an. Insofern wäre es verkürzt, Descartes nur als Begründer des neuzeitlichen interaktionistischen Dualismus zu sehen. Vielmehr fi nden sich bei ihm sowohl dualistische als auch materialistische Theoriestücke, wenn-gleich der dualistische Grundzug vorherrschend ist. Letztlich stehen bei Descartes Differenz-, Geschlossenheits- und Wechselwirkungsthese unverbunden nebeneinander. Der Schwachpunkt des interaktionistischen Dualismus besteht im Problem der mentalen Verursachung. Später verwarf Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) die Wechselwirkungsthese, hielt aber sowohl an der Differenz- wie an der Geschlossenheitsthese fest, vertrat also einen psychophysischen Paral-lelismus. Ein materialistischer Monismus wurde von Thomas Hobbes (1588–1679) vertreten. Der französische Materia-lismus basiert auf der Geschlossenheitsthese; weder die Differenz- noch die Wechselwirkungsthese werden ernsthaft erwogen. Ein Repräsentant dieser materialistischen Doktrin ist Julien Offray de La Mettrie.
Phrenologie. Er machte 27 „Organe“ im Gehirn dingfest, wobei er auch negativen mo-ralischen Eigenschaften ihren festen Platz zuwies (Zerstörungstrieb, Mordtendenzen, Verschlagenheit, Verheimlichungstrieb).21 In der Nachfolge Galls untersuchte George Combe (1788–1858) die Schädel von zwei (!) Indianern und generalisierte diese Einzel-befunde zu einer theoretischen Konzeption von Nationaltypen bezüglich Intelligenz und Charakter. Die Norm war dabei der Schädel des „gebildeten“ Europäers. Olaf Breid-bach betont, dass die Phrenologie unter dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit die Deklassierung nichteuropäischer Völker unterstützte. Aus dieser Deklassierung wurden Konsequenzen für eine „Erziehung“ dieser Völker und für den politischen Umgang mit ihnen abgeleitet. Diese Theorie wurde Jahrzehnte vor Darwin formuliert. Breidbach äußert die Vermutung, dass die Phrenologie pauschale Vorurteile konsolidierte und Denkschablonen etablierte, die möglicherweise zur Rassenlehre und Eugenik prädispo-nierten.22 Die Lokalisationslehre fand ein vorläufiges Ende mit der Äquipotenztheorie, die eine funktionelle Gleichwertigkeit des Großhirns postulierte und eine Lokalisation spezi-fischer Funktionen ablehnte. Ein wesentlicher Repräsentant der funktionellen Gleich-wertigkeit der Hemisphären ist François Xavier Bichat (1771–1802), einer der bedeu-tendsten Physiologen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sein antilokalisatorisches Konzept von der funktionellen Gleichwertigkeit der Großhirnhemisphären wurde auf-gegriffen und weiterentwickelt von Pierre Jean Marie Flourens (1794–1867), der die Neurophysiologie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidend beeinflusste. Flourens unterschied nur drei Hauptfunktionsareale: (1) die Großhirnhemisphären (Sitz der Empfindungen, des Willens, des Gedächtnisses und des Intellekts), (2) das Kleinhirn (Bewegungskoordination) und (3) die Medulla oblongata (vitale Funktionen wie die Steuerung der Atmung).23 Während Bichats Annahmen auf morphologischen Befunden beruhen, belegte Flourens seine globalisierende Interpretation der Hirnfunktionen, wonach im Großhirn keine funktionell distinkten Areale existierten, durch Tierexperi-mente. Hierzu führte er an Versuchstieren (vor allem an Tauben, jedoch auch an Ka-ninchen, Hunden und Katzen) grausame Läsionsexperimente durch. In seinen Exstir-pationsexperimenten entfernte er operativ ausgedehnte Hirnareale und beobachtete die korrespondierenden Funktionsausfälle. Flourens’ globalisierende Äquipotenzthese be-stimmte die Hirnphysiologie maßgeblich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nach Flourens bildet das Großhirn eine undifferenzierte Einheit, ist also in funktioneller Hinsicht als eine weitgehend amorphe Masse anzusehen. Frühere Befunde, die eine funktionelle Lokalisierung nahe legten, wurden ignoriert. So hatte François Pourfour du Petit (1664–1741) bereits 1710 die Kreuzung von Nervenfasern in den Pyramiden nachgewiesen und Evidenz dafür gefunden, dass Willkürbewegungen einer Körpersei-te unter der Kontrolle der kontralateralen Großhirnhälfte stehen (Prinzip der kontrala-teralen Innervation).24 Pourfour du Petits Versuchsbeschreibungen sind detaillierter und präziser als diejenigen von Flourens, wurden jedoch nicht angemessen beachtet, so dass Flourens’ Äquipotenztheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Physiolo-gie im Vordergrund stand.25 23 Oeser (2002), S. 130 ff., Breidbach (1997), S. 91 ff.
24 Ebd., S. 92 ff. und S. 116, Oeser (2002), S. 72 ff.
25 Breidbach (1997), S. 101. Später versuchte Friedrich Leopold Goltz (1834–1902) durch Ablationsexperimente bei Hunden die Lokalisationstheorie zu widerlegen. Er propagierte eine äquipotentialistische Auffassung des Großhirns, wonach es funktionell nicht kompartimentiert sei. Goltz entwickelte eine Operationsmethode, bei der Hirnareale mit einem Wasserstrahl unterspült und zerstört wurden, wobei das Blutungsrisiko geringer war als bei früheren Exstirpationsexpe-rimenten (Abschneiden oder Auslöffeln von Hirnarealen).
Wichtige Impulse in Richtung einer cerebralen Lokalisationstheorie kamen nicht aus der experimentellen Physiologie, sondern aus der Klinik. Neurologische Herdsymp-tome, die auf umschriebenen Läsionen beruhten, waren mit einem globalisierenden Konzept der Hirnfunktion, wie es von Flourens vertreten wurde, nicht vereinbar. Trotz des Verdikts von Flourens fanden Galls Überlegungen zur cerebralen Lokalisation bei Klinikern Resonanz. Insgesamt zeigte sich die klinische Forschung wenig von Flourens’ Äquipotenztheorie beeindruckt, da sie der klinischen Erfahrung widersprach. Jean Bap-tiste Bouillard (1796–1881) betrachtete neurologische Funktionsausfälle (Herdsymptome als Resultat einer neurologischen Erkrankung) als „natürliche Vivisektionen“.26 Entschei-dende Impulse bekam die cerebrale Lokalisationslehre durch die Lokalisation der mo-torischen Aphasie27 im Gyrus frontalis inferior der dominanten Hemisphäre 1861 durch den Chirurgen Paul Broca (1824–1880). Die Entdeckung des sensorischen Sprachzen-trums durch Theodor Meynert (1866) und Carl Wernicke (1874) waren wichtige Schritte in Richtung einer funktionellen Lokalisation. Ein wichtiges Krankheitsbild und ein Mo-dell für eine körperlich begründbare psychische Störung wurde die „Krankheit des 19. Jahrhunderts“, die Progressive Paralyse (Neurosyphilis), an der gegen Ende des 19. Jahr-hunderts ein Fünftel der Anstaltspatienten litten.28 Die Progressive Paralyse stellte im 19. Jahrhundert ein nosologisches Modell dar, da hier psychische Auffälligkeiten (De-menz, Persönlichkeitsänderung und Verhaltensauffälligkeiten) auf ein organisches Kor-relat zurückgeführt werden konnten.29 Wichtige Arbeiten zur Korrelation zwischen neu-ropathologischem und psychopathologischem Befund leisteten Arnold Pick (1851–1924) und Alois Alzheimer (1864–1915) in der Demenzforschung. Die Hirnforschung profi-tierte nicht nur von neurologischen Systemerkrankungen oder Infektionen, die Bouillard und Jackson als „natürliche Vivisektionen“ ansahen, sondern auch von der Neurotrau-matologie. Hier spielen Kriegsverletzungen eine entscheidende Rolle, zunächst Stich-verletzungen, später Kopfschüsse und Granatsplitterverletzungen. Ein Arbeitsunfall am 13.9.1848 führte zur klassischen Kasuistik eines Frontalhirnsyndrom mit konsekutiver Persönlichkeitsveränderung. Der Eisenbahnarbeiter Phineas Gage erlitt bei einer Explo-sion eine penetrierende Frontalhirnverletzung, die zu einer posttraumatischen Persön-lichkeitsveränderung führte.30 Die innovativen Impulse im Hinblick auf die weitere Konzeption der cerebralen Lo- kalisationstheorie kamen also aus der Klinik, die experimentelle Physiologie hinkte hinterher. In der Neurophysiologie vollzog sich der Paradigmenwechsel hin zu einer cerebralen Lokalisationstheorie erst mit den 1870 publizierten Hirnreizexperimenten von Gustav Fritsch (1838–1927) und Eduard Hitzig (1838–1907). Durch elektrische Rei-zung des motorischen Cortexes bei Hunden konnten sie die Existenz von motorischen Zentren nachweisen. Die Fortschritte der Zytologie und Histologie und insbesondere die Entwicklung von Färbetechniken zwischen 1870 und 1880 führten gegen Ende des 19. Jahrhunderts zur Formulierung der Neuronentheorie und zum Konzept der Synap-se. Einen wichtigen Beitrag leistete der spanische Histologe Santiago Ramón y Cajal (1852–1934), der 1906 den Nobelpreis erhielt. Es dauerte jedoch bis zum Beginn der 26 Breidbach (1997), S. 118. Analog bezeichnete John Hughlings Jackson (1835–1911), der wesentliche Beiträge zur funk- tionellen Asymmetrie der Großhirnhemisphären und zur Dominanz der linken Hemisphäre geleistet hat, epileptische Anfälle als „experiments of the brain made by disease“ (ebd., S. 134).
27 Broca nannte die gestörte Sprachproduktion bei erhaltenem Sprachverständnis „Aphemie“; der Begriff „Aphasie“ wur- de von Armand Trousseau (1801–1867) eingeführt (Oeser [2002], S. 159, Breidbach [1997], S. 127).
28 Schott/Tölle (2006), S. 80 ff.
29 Der Erreger (Treponema pallidum) konnte erst 1905 mikrobiologisch nachgewiesen werden (Fritz Schaudin und Erich Hoffmann). Der Nachweis von Treponema pallidum im Gehirn und Liquor gelang erst 1913 (Hideyo Noguchi).
30 Damasio (1999); Ratiu et al. (2004).
1950er Jahre, bis die Neuronentheorie weitgehend akzeptiert war.31 Die Fortschritte der mikroskopischen Neuroanatomie erlaubten Korbinian Brodmann (1868–1928) und Constantin von Economo (1876–1931) eine zytoarchitektonische Kartierung des Cortex (1906). Aufgrund von elektrischen Reizexperimenten bei Operationen von Epileptikern konnten Wilder Penfield (1891–1975) und Theodore Rasmussen 1952 den sensomoto-rischen „Homunculus“ beschreiben.32 Eine übertriebene, neophrenologisch anmutende Hirnkarte umschrieben lokalisierter Funktionen auf zytoarchitektonischer Grundlage entwickelte der Frankfurter Neurologe Karl Kleist (1879–1960).33 Anfang des 20. Jahrhunderts suchte man nach Alternativen zu einer corticalen Lo- kalisationstheorie.34 Es wurde eine holistische Alternative formuliert. Die alten Äquipo-tenztheorien (Bichat, Flourens) erlebten eine Renaissance.35 Der britische Neurologe Henry Head (1861–1940) und Kurt Goldstein (1878–1965) äußerten Zweifel, dass das strikte Lokalisationsprinzip tauglich sei zur Beschreibung komplexer psychischer Phä-nomene. Neoäquipotenzialistische Auffassungen von Karl Lashley (1890–1958) konnten Raum gewinnen. Nicht einzelne umschriebene Areale, sondern die Hirnmasse sei ent-scheidend für mentale Phänomene.36 Spätere Modelle rückten den Prozesscharakter in den Vordergrund. Die Theorie der neuronalen Netze begreift das Gehirn als ein komplex interagierendes System. Zentral für das Konzept der neuronalen Netze, das erst durch die Vermittlung der Informatik Fuß fasste, ist Donald Hebbs (1904–1985) Modell. Ner-venzellen sind demnach zu Verbänden zusammengefasst. Die Vorgänge in realen neu-ronalen Netzen werden am ehesten durch hochgradig parallelverarbeitende Rechner simuliert.37 Breidbach und Oser weisen darauf hin, dass das Konzept der hochparallelen Organisation des neuronalen Gewebes sich bereits ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.38 Der Wiener Physiologe Sigmund Exner (1846–1926) formulierte bereits 1894, also mehr als ein halbes Jahrhundert vor Hebb, ein Schema neuronaler Verschaltungen, das den modernen Konzepten neuronaler Netze sehr ähnlich ist. Exner nahm das Hebb-sche Modell und auch die Grundideen der derzeitigen kognitiven Neurowissenschaften durch seine erste explizite Darstellung eines neuronalen Netzes in nahezu allen Punk-ten vorweg. Die Konzeption Exners scheint in direkter Linie zu den modernen Theorien der Neurowissenschaften zu führen. Dies trifft jedoch nicht zu, da die Wissenschafts-geschichte einen Bruch des Diskurses zeigt und Hebb mit seinem Modell noch einmal neu ansetzte.39 Olaf Breidbach fragt: „Was bedeutet es für eine moderne Neurowissen-schaft, wenn sie sich bewußt wird, mit den neuronalen Netzen nur mehr eine psycho-logische Theorie vom Anfang des 19. Jahrhunderts zu explizieren?“40 31 Breidbach (1997), S. 198.
32 Ebd., 33 „Kleist’s localisation of functions in the cerebral cortex is almost as fanciful and exotic as the early phrenological car- tographies.“ Kotowicz (2005), S. 84. Kleist ist besser bekannt für das Konzept der cycloiden Psychosen (Wernicke-Kleist-Leonhard-Schule).
35 Oeser (2002), S. 235–237, Breidbach (1997), S. 297–346.
36 Ebd., 37 Breidbach (1997), S. 25.
38 Ebd., S. 22–37, Oeser (2002), S. 240 ff.
39 Breidbach (1997), S. 33.
40 Ebd., Neuroimaging – medizinethische Implikationen
Die modernen bildgebenden Verfahren und insbesondere die funktionelle Bildgebung haben das Interesse an cerebraler Lokalisation neu belebt. Nachdem im vorigen Kapitel die Geschichte der cerebralen Lokalisationstheorien skizziert wurde, sollen nun die me-dizinethischen Implikationen der Neuroimaging-Verfahren betrachtet werden. Bei den ethischen Fragen im Zusammenhang mit den modernen Neuroimaging-Verfahren ist es sinnvoll, zwischen diagnostischen und prädiktiven Zwecken zu unterscheiden. Das Hauptziel der bildgebenden Verfahren besteht heute in der Diagnostik. Es geht darum, eine klinische Verdachtsdiagnose neuroradiologisch zu bestätigen oder auszuschließen. In Zukunft ist zu erwarten, dass durch technische Fortschritte auch subtil gestörte Funk-tionsabläufe hochauflösend darstellbar sein werden. Dadurch könnten Subgruppen von Patienten aufgrund bildgebender Verfahren definiert werden, die beispielsweise auf bestimmte Therapien besonders gut ansprechen oder bei denen eine bestimmte The-rapieoption von vornherein aussichtslos erscheint. Dadurch wäre eine individuell maß-geschneiderte Therapie möglich. Ein prädiktives Potential der modernen bildgebenden Verfahren könnte darin liegen, dass Hochrisiko-Patienten detektiert werden können, die (noch) keine Krankheitssymptome aufweisen. So könnten sich frühe morphologische Alterationen bei der Schizophrenie und der Alzheimer-Demenz darstellen lassen, lange bevor sich entsprechende psychopathologische Symptome manifestieren. Im Fall der Schizophrenie könnten dann frühe Interventionsstrategien entwickelt werden, beispiels-weise ein frühzeitiger Einsatz einer antipsychotischen Medikation. Dadurch ließen sich möglicherweise irreversible Negativsymptome vermeiden, welche die Prognose der Er-krankung wesentlich bestimmen. Der Nachteil wäre darin zu sehen, dass Menschen mit Psychopharmaka behandelt und dem Risiko unerwünschter Wirkungen ausgesetzt würden, die trotz der morphologischen Auffälligkeiten vielleicht nie erkranken würden. Im Fall einer heute unheilbaren und chronisch-progredienten Erkrankung wie Alzhei-mer wäre der Nachweis eines erhöhten Erkrankungsrisikos (ähnlich wie bei der Chorea Huntington) mit besonderen ethischen Problemen verknüpft, da hier im Unterschied zu Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis weniger wirksame Therapien zur Verfügung stehen. Allerdings ließe sich durch den frühzeitigen Einsatz von Antidemen-tiva die Progression der Demenz möglicherweise verzögern. Der Nachweis einer Krank-heitsdisposition bei asymptomatischen „Patienten“ birgt zudem ein Missbrauchspoten-tial, da potentielle Arbeitgeber oder Versicherungen bei Bekanntwerden einer derartigen Krankheitsdisposition diskriminierend reagieren könnten.41 Wichtig ist, dass Teilnehmer 41 Der Nationale Ethikrat hält in seiner Stellungnahme vom 16.8.2005 (www.ethikrat.org) prädiktive genetische Untersu- chungen bei privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen sowie im öffentlichen Dienst (Angestellte) für nicht relevant, da es bei derartigen Einstellungsuntersuchungen lediglich um die Frage gehen sollte, ob mit überwiegender Wahrscheinlich-keit innerhalb der üblichen Probezeit von sechs Monaten erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit zu erwarten sind. Dies wäre selbst beim Nachweis der typischen Genveränderung für Chorea Huntington nicht zu bejahen. Anders verhält es sich jedoch bei einer Verbeamtung auf Lebenszeit, da hier der Dienstherr keine Möglichkeit der krankheits-bedingten Kündigung hat und damit ein Versorgungsrisiko trägt. Daher steht hier die Langzeitprognose im Hinblick auf den Eintritt vorzeitiger Dienstunfähigkeit im Zentrum. Hier empfi ehlt der nationale Ethikrat, prädiktive und prognos-tische Gesundheitsinformationen nur dann zu erfragen/verwerten, wenn sie Krankheiten bzw. Krankheitsanlagen be-treffen, die sich mit mehr als 50 % Wahrscheinlichkeit in den nächsten fünf Jahren in nicht unerheblichem Ausmaß auf den Gesundheitszustand des Bewerbers auswirken werden. Der Europarat („Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin“, 4.4.1997) hat sich dezidiert gegen eine Verwendung prädiktiver Tests innerhalb von Arbeits- und Versiche-rungsverhältnissen ausgesprochen. Die Bundesärztekammer verabschiedete am 14.2.2003 „Richtlinien zur prädiktiven genetischen Diagnostik“ (veröffentlicht im Deutschen Ärzteblatt am 9.5.2003, Jg. 100, Heft 19, S. A1297-A1305). Darin wird festgestellt, dass ein (zukünftiger) Arbeitnehmer nicht in genetische Analysen einwilligen und auch nicht bereits gestellte Diagnosen offenbaren muss. Diese Stellungnahme gilt als verbindlich bis zum Erlass eines Gendiagnostik -gesetzes. Zum geplanten Gendiagnostikgesetz siehe Hasskarl/Ostertag (2005). an einer Neuroimaging-Studie (Kontrollgruppe) die Möglichkeit haben sollten, über „zufällige“ Befunde nicht informiert zu werden (Recht auf Nichtwissen).
Ein medizinethisches Problem technisch ausgereifterer Verfahren ist darin zu sehen, dass mentale Prozesse objektiv bildlich darstellbar werden könnten. Damit wären intime psychische Prozesse nicht mehr nur introspektiv erfahrbar, sondern auch für andere zugänglich. Durch die neueren bildgebenden Verfahren könnten die Ich-Umwelt-Gren-zen auf unkontrollierbare Weise durchlässig werden; ein „Einstieg ins fremde Bewusst-sein“ und in die Privatsphäre könnten möglich werden. Prinzipiell erscheint es nicht unmöglich, mentale Zustände oder Dispositionen von Individuen in Zukunft abbilden zu können. Dadurch könnte man möglicherweise die sexuelle Orientierung/Identität, soziale Einstellungen zu anderen Bevölkerungsgruppen, rassistische Vorurteile, Per-sönlichkeitseigenschaften wie Impulsivität und Aggressivität, soziale Verträglichkeit oder eine Suchtdisposition erfassen. Dies wäre prinzipiell auch ohne Einverständnis der betroffenen Person möglich. Individuelle persönliche Eigenschaften, Einstellungen und Charakterdispositionen wären damit für andere verfügbar und könnten von Versiche-rungen oder zu Werbezwecken missbraucht werden. In Zukunft könnte Neuroimaging auch zur neurobiologischen „Objektivierung“ von Marketingstrategien vermehrt einge-setzt werden (Neuroökonomie/Neuromarketing). Durch Messung der Aktivität im lim-bischen System als Reaktion auf ein bestimmtes Produkt hätte man einen „objektiven“ Parameter für unbewusste Kaufwünsche bzw. die Attraktivität eines Produktes oder ei-ner bestimmten Werbestrategie.42 Auch Lügendetektoren auf der Grundlage von fMRI sind in der Entwicklung (brain-based lie detection), die ein sog. guilty knowledge bild-lich darstellbar machen.43 Ein „brain fingerprinting“ könnte eingesetzt werden zum Screening auf (potentielle) Terroristen.44 Ein Gehirnscreening (brainotyping) könnte bei Einstellungsuntersuchungen oder vor Abschluss einer Versicherung verlangt werden, um sozial erwünschtes Verhalten bzw. Krankheitsdispositionen zu erfassen. Wenn sich eine Disposition zu dissozialem und delinquentem Verhalten darstellen ließe, könnten möglicherweise frühzeitige Interventionsstrategien eingeleitet werden. Der Nachweis eines organischen Korrelats könnte Auswirkungen auf die Frage der Schuldfähigkeit haben.45 Beispielsweise ließe sich ein präfrontales Defizit nachweisen, das mit einer verminderten Kontrolle aggressiver Impulse einhergeht.
Diesen Zukunftsszenarien sind derzeit aber methodisch-technische Grenzen gesetzt. Reliable Aussagen sind derzeit nur in Bezug auf eine mehr oder weniger homogene Gruppe von Probanden möglich. Individuelle Aussagen oder gar Prognosen über men-tale Zustände, Persönlichkeitseigenschaften, Einstellungen und Haltungen sind auf der Basis der funktionellen Bildgebung (noch?) nicht möglich; allerdings ist das Anwen-dungs- und Missbrauchspotential dieser Methoden derzeit unüberschaubar. Aussagen auf individueller Ebene erscheinen nicht prinzipiell unmöglich. Die Validität der Ver-fahren ist allerdings fraglich; folgenschwere Fehlinterpretationen sind nicht ausgeschlos-sen. Möglichen positiven Optionen (Ermöglichung von Frühintervention und Prophy-laxe) steht die Gefahr von Diskriminierung und Stigmatisierung gegenüber. Außerdem ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gefährdet.
Neben diesen ethischen Aspekten bergen die neueren bildgebenden Verfahren me- dizintheoretisch auch die Gefahr eines „Neurorealismus“. Die Aussagekraft der Befunde 42 Vgl. Steinmetzer/Müller (2007).
43 Vgl. Mohamed et al. (2006).
44 Farah (2005). Die US-amerikanische Firma Brain Fingerprinting Laboratories wirbt mit dem potenziellen Einsatz von Brain Fingerprinting zur Terrorismusbekämpfung. Unter der Rubrik „Counterterrorism Applications“ (www.
brainwavescience.com/counterterrorism.php [21.8.2006]) heißt es vollmundig: „Brain Fingerprinting technol ogy can determine the presence or absence of specifi c information, such as terrorist training and associations.“ wird leicht überstrapaziert, die Ergebnisse werden nicht selten vorschnell unkritisch überinterpretiert. Die vielfach populistisch zu Markte getragenen bunten Bilder gaukeln eine illusionäre Exaktheit und Pseudo-Objektivität vor. Es besteht die Gefahr einer re-duktionistischen Interpretation. Die funktionelle Relevanz eines Befundes ist oft unklar. Matthis Synofzik sieht eine weitere Gefahr darin, dass die Popularität der bildgebenden Verfahren im Wissenschaftsbetrieb zu einer Dominanz dieser Verfahren führt, die nicht neurowissenschaftlich zu begründen ist. Die „Drittmittel einwerbende Kraft“ der bunten Bilder, ihre scheinbare ethische „Reinheit“ (nichtinvasiv, keine Tierexperimente) führe zu einer „neophrenologischen“ Attraktivität. Dabei könne der populäre Faszinations -gehalt die wissenschaftliche Aussagekraft übersteigen.46 Invasive Interventionen am Gehirn:
Psychochirurgie und Neurostimulation

4.1 Psychochirurgie
Psychochirurgische Interventionen basieren auf dem theoretischen Konzept der cere-bralen Lokalisation, dessen Geschichte in Kapitel 2.2 skizziert wurde.47 Als Psychochi-rurgie bezeichnet man neurochirurgische Verfahren, die darauf abzielen, psychische Störungen zu beeinflussen.48 Bei diesen operativen Verfahren handelt es sich um abla-tive/destruierende Eingriffe in gesundes Gehirngewebe, das keine fassbaren morpho-logischen Alterationen aufweist. Beispiele für psychochirurgisch behandelte psychia-trische Krankheitsbilder sind schwere „therapieresistente“ Zwangsstörungen, Depres-sionen und Angststörungen sowie Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. Die Bezeichnung „Psychochirurgie“ geht zurück auf den portugiesischen Neurologen Egas Moniz (1874–1955), den Entdecker der cerebralen Angiographie. Für die präfrontale Leukotomie erhielt er 1949 den Nobelpreis für Medizin.49 Die ersten Leukotomien wur-den von dem Neurochirurgen Almeida Lima unter Anleitung von Moniz mittels Injek-tion von Alkohol in die weiße Substanz des präfrontalen Cortex (Centrum ovale) durch-geführt. Später wurden die Läsionen der weißen Substanz mechanisch vorgenommen mittels eines Leukotoms. Hierbei handelt es sich um eine Kanüle mit einer ausfahrbaren Drahtschlinge. Durch Rotation der Drahtschlinge wurde ein Teil der weißen Substanz zerstört. Über Bohrlöcher wurden mit diesem Gerät bilaterale frontale Läsionen verur-sacht, die hinsichtlich Lokalisation und Ausdehnung – wie später autoptisch nachge-wiesen wurde – sehr heterogen waren.50 Die ersten psychochirurgischen Eingriffe führte allerdings nicht das Team um Mo- niz, sondern der schweizerische Psychiater Gottlieb Burckhardt (1836–1907) bereits zwischen 1888 und 1890 durch.51 Die Kasuistiken publizierte er 1891 unter dem Titel 48 NMD: neurosurgery for mental disorders. Vgl. Crossley/Freeman (2003). – Die WHO defi nierte 1976 Psychochirurgie als „the selective surgical removal or destruction of nerve pathways for the purpose of infl uencing behav ior“ (Feldman/Goodrich [2001], S. 647).
49 Fortner/Groß (2002). Moniz war von 1918 bis 1919 als Außenminister Portugals tätig. Für die von ihm entwickelte Me- thode der cerebralen Angiographie wurde Moniz zweimal (1927/28 und 1932/33) für den Nobelpreis nominiert. Hans Christian Jacobaeus (1879–1937) votierte gegen die Verleihung des Preises an Moniz. Vgl. Ligon (1998).
51 Burckhardt führte die Operationen selbst durch, obwohl er keine chirurgische Erfahrung hatte. Zudem stand ihm nur ein kleiner und primitiv ausgestatteter Operationsraum zur Verfügung. Diese ersten psychochirurgischen Eingriffe wurden „Ueber Rindenexcisionen, als Beitrag zur operativen Therapie der Psychosen“.52 Burck-hardt strebte keine Heilung an, sondern lediglich eine Ruhigstellung. Betreuungsinten-sive Patienten sollten besser führbar und weniger „lästig“ werden. Primäres Ziel Burck-hardts war die Reduktion sozial unerwünschten Verhaltens, die Verminderung des Betreuungsaufwandes und die Erzeugung eines pflegeleichten Patienten.53 Zum Ziel der Ruhigstellung nahm Burckhardt verstümmelnde Eingriffe sogar am motorischen Sprachzentrum (Broca) vor.54 Bei seinen kühnen Hirnoperationen zeigte Burckhardt eine bemerkenswerte und befremdliche Risikobereitschaft. Er favorisierte das Prinzip ut aliquid fiat gegenüber dem Grundsatz nil nocere/non maleficience: „melius anceps reme-dium quam nullum.“55 Der gewagte und medizinethisch problematische psychochirur-gische Vorstoß Burckhardts löste in der Fachwelt Befremden aus.56 Die von Moniz 1935 eingeführte präfrontale Leukotomie wurde modifiziert und ver- einfacht durch den amerikanischen Neurologen Walter Freeman und den Neurochir-urgen James Watts. Freeman führte auch ohne Anwesenheit eines Neurochirurgen Lobotomien über einen transorbitalen Zugang durch. Dabei verwendete er ein eis -pickelartiges Instrument („orbitoclast“), das bilateral durch das Orbitadach ca. 7 cm tief in das Frontalhirn gemeißelt wurde, nachdem der Patient vorher durch eine Elektro-krampfbehandlung bewusstlos gemacht worden war. Durch dieses martialische Vorge-hen, das nur 15–20 Minuten dauerte, kam es zu ausgedehnten frontalen Läsionen mit konsekutiven Persönlichkeitsveränderungen und persistierenden Aufmerksamkeits-, Affekt- und Antriebsstörungen.57 Zahlreiche Komplikationen traten auf wie Infektionen und intracerebrale Blutungen. Ethisch verwerflich ist die Durchführung der transorbi-talen Lobotomie durch Freeman auch gegen den Willen des Patienten. So führte er 1950 den Eingriff in einem Motelzimmer durch, während Polizisten den agitierten Patienten festhielten. Noch in den 1960er Jahren führte er Lobotomien bei männlichen Adoles-zenten durch, die bis auf „Angst“ gesund waren.58 Historisch ist im Hinblick auf die initial überwiegend positive Rezeption der Psychochirurgie in der Fachwelt und in der in der Nervenheilanstalt Préfargier bei Neuchâtel durchgeführt. Die chirurgische Technik hatte er von dem mit ihm befreundeten Chirurgen August Socin erlernt. Vgl. hierzu Groß (1998).
52 Groß (1998), S. 224 und S. 233.
53 Ebd., 54 Groß (1999), S. 1: „Die meisten Eingriffe erfolgten am motorischen oder sensorischen Sprachzentrum“. „Most of the cortical excisions performed by Burckhardt were localized in and around the areas now known as Broca’s and Wernicke’s areas“ (Feldman/Goodrich [2001], S. 649). Groß (1998), S. 235 f.: „Bei seiner ersten psychochirurgisch behandelten Pa-tientin exzidierte Burckhardt in der vierten Operation am 12.2.1890 Gewebe aus der ‚linken dritten Frontalwindung‘. Nach diesem destruierenden Eingriff im Gyrus frontalis inferior der linken (wahrscheinlich dominanten) Hemisphäre dürfte sich eine Störung der Sprachproduktion mit verminderter Spontansprache (Broca-Aphasie) manifestiert haben.“ Diese Auffassung vertritt auch Kotowicz (2005), S. 87. Burckhardt defi nierte als Erfolgsparameter der Operation die nun verminderte Lärmbelästigung durch die Patientin, von der man nun nichts mehr gehört habe. Burckhardt hatte als „An-griffsobject“ das motorische Sprachzentrum gezielt ausgewählt aufgrund des Zielsymptoms Logorrhoe. Bei einem spä-teren Fall dachte Burckhardt über eine Läsion des motorischen Sprachzentrums nach, hielt jedoch eine postoperative motorische Aphasie für eine „schwere Verstümmelung“ (Groß [1999], S. 237 f.). Bei einer 37jährigen Witwe trat nach einer von Burckhardt durchgeführten Läsion des Wernicke-Sprachzentrums im Temporallappen eine Aphasie auf. Diese Frau starb kurze Zeit nach der Entlassung am 21.11.1889 – wahrscheinlich durch Suizid, möglicherweise auch durch einen Unfall (ebd., S. 238 f.). In der letzten von Burckhardt publizierten Kasuistik ist eine postoperative Wernicke-Aphasie nach Eröffnen des Schädels mit einem Meißel und Exzision von Cortexmaterial beschrieben. Der Patient verstarb am sechsten postoperativen Tag (ebd., S. 241 f.). 55 Groß (1998), S. 248. Persaud (2003), S. 196: „As a profession that has come to be viewed with particular suspicion and antagonism, it may particularly be appropriate for psychiatry to focus primarily on doing no harm than just doing some-thing.“ 56 Zur Rezeption von Burckhardt und Moniz siehe Kotowicz (2005).
57 Bei Rosemary Kennedy, der Schwester des US-Präsidenten John F. Kennedy, wurde 1941 eine Lobotomie durchgeführt mit der Folge kognitiver Defi zite (Feldman/Goodrich [2001], S. 653, Lerner [2005], S. 119).
Laienpresse der gesundheitsökonomische Aspekt bedeutsam.59 Vor den 1950er Jahren standen psychopharmakologische Therapieoptionen nicht zur Verfügung. Die Leuko-tomie stellte damals eine effektive Therapieoption dar,60 wenngleich kritisiert wurde, dass das Verfahren keine kausale Therapie darstellte oder die Kernsymptome behandel-te, sondern eher mitigierend auf auffälliges und störendes Verhalten wirkte. Es wurde und wird kritisiert, dass die Dynamik der produktiv-psychotischen Symptomatik ledig-lich abnimmt aufgrund der Affektverflachung, der emotionalen Indifferenz, der Nivel-lierung der Persönlichkeit und der Antriebsreduktion. Es wurde scharf kritisiert, dass es zu einer „Defrontalisation“ kommt und zur „Aufpfropfung eines Stirnhirnsyndroms“. Daraus resultiere eine irreversible Vernichtung der selbstbewussten und freien Persön-lichkeit.61 Aus ethischer Sicht ist zu den von Moniz durchgeführten präfrontalen Leu-kotomien kritisch anzumerken, dass es sich um experimentelle Verfahren ohne Wirk-samkeitsnachweis handelte.62 Ein weiterer gewichtiger ethischer Einwand gegen Moniz betrifft das Autonomieprinzip und den informed consent.63 Mit der Ära der Psychophar-maka ab den 1950er Jahren gerieten psychochirurgische Verfahren zu Recht immer mehr ins Abseits.
Psychochirurgische Verfahren sind aber trotz der vielfach geäußerten berechtigten Kritik64 nicht obsolet, sondern kommen auch heute noch zum Einsatz:65 Bei therapie -resistenten Zwangsstörungen wird die anteriore Cingulotomie durchgeführt. Bei diesem Eingriff werden bilaterale stereotaktische Läsionen des Gyrus cinguli mittels Thermo-koagulation induziert. Ein weiteres Verfahren („subcaudate tractotomy“) ist die Unter-brechung von Fasern von den Frontallappen zu subkortikalen Strukturen (Amygdala). Läsionsort ist die Substantia innominata unterhalb des Caput nuclei caudati. Wie die Cingulotomie wird das Verfahren eingesetzt bei Zwangs- und Angststörungen sowie bei therapieresistenten Depressionen.66 Die Nebenwirkungsrate ist bei diesem Verfahren höher als bei der Cingulotomie. Beschrieben sind postoperative epileptische Anfälle und Persönlichkeitsveränderungen. Ein weiteres Verfahren, die limbische Leukotomie, stellt eine Kombination aus den beiden genannten Verfahren dar. Bei der anterioren Capsu-lotomie werden fronto-limbische Fasern in der Capsula interna thermokoaguliert. Dieses 59 Befremdlich ist die unkritische Propagierung der Psychochirurgie in jüngster Zeit gerade mit dem „Argument“ des ökonomischen Drucks: „Recent advances in technology and functional neuroanatomic techniques, as well as economic pressures to decrease the costs of caring chronically patients, may provide an opportunity for psychosurgery to become a more attractive option for the treatment of psychiatric diseases.“ (Feldman/Goodrich [2001], S. 647).
60 Mashour/Walker/Martuza (2005), S. 411: „[M]ental illness was regarded as a great burden to society, and the loboto- my provided a way of relieving the heavy costs of the asylums. [.] Thus, the lack of effective psychopharmacological agents, the overcrowded and often sub-par conditions of the asylums, and the large social and fi nancial burden of psychiatric illness all contributed to an environment in which frontal lobotomy was warmly welcomed.“ 61 Fortner/Groß (2002), S. 156 f.
62 Ebd., S. 142 und 165: Der mangelnde Wirksamkeitsnachweis resultiert aus der geringen Fallzahl, der heterogenen Zu- sammensetzung der Patientenstichprobe, der uneinheitlichen Methodik (Operationsmethoden) und der nicht standar-disierten „Evaluation“ der Ergebnisse durch Barahona Fernandes.
S. 165 f. Im Fall von Nicht-Einwilligungsfähigkeit propagierte Moniz, dass die Familie und der Arzt die Entscheidung S. 163: 1976 erschien die Monographie „Chirurgie der Seele. Operative Umpolung des Verhaltens“ von Egmont R. Koch. Volkmar Sigusch publizierte 1977 die Schrift „Medizinische Experimente am Menschen: das Beispiel Psychochi-rurgie“.
66 Von einer niederländischen Arbeitsgruppe (Utrecht) wurde 2006 eine Kasuistik publiziert über eine stereotaktische „subcaudate tractotomy“ (SST), die bei einem Patienten mit Zwangsstörung ohne Stereotaxierahmen durchgeführt wurde. Der Vorteil dieser einfacher praktikablen Methode liegt in kürzeren Anästhesiezeiten und damit in einer Koste-nersparnis. Die Autoren betonen, dass bei der SST keine Präzision im Submillimeter-Bereich notwendig ist, da extensive Läsionen erzeugt werden (bis zu 8 mm): Woerdeman et al. (2006). Bei depressiven Patienten konnte nach SST neuropsy-chologisch eine verminderte Sensitivität gegenüber negativen Rückmeldungen nachgewiesen werden. Vgl. Dalgleish et al. (2004).
Verfahren ist auch radiochirurgisch mittels Gamma Knife möglich, so dass keine offene Hirnoperation notwendig ist. Die Capsulotomie soll bei Zwangsstörungen effektiver sein als die Cingulotomie. Nebenwirkungen sind kognitive und affektive Störungen, Antriebsreduktion, Gewichtszunahme und nächtliche Inkontinenz. Bestenfalls haben psychochirurgische Verfahren grosso modo eine Erfolgsrate von ca. 50 %.67 Postoperative Persönlichkeitsveränderungen stellen ein schwerwiegendes Problem dieser psychochi-rurgischen Eingriffe dar. In diesem Fall und bei persistierenden kognitiven oder mnes-tischen Defiziten wäre die Behandlung schlimmer als die Grunderkrankung. In einem jüngst erschienenen Editorial der Zeitschrift „Addiction“ (2006) wurden psychochirur-gische Verfahren bei Heroinabhängigkeit zu Recht scharf kritisiert und abgelehnt.68 Einige deutsche Psychochirurgen dehnten den Indikationsbereich auf Patienten mit abweichendem Sexualverhalten aus. So wurden auch Homosexuelle psychochirurgisch behandelt. In einem Forschungsbereicht der Universität des Saarlandes (Fachrichtung Neurochirurgie) hieß es noch 1977, dass durch Psychochirurgie „homosexuelle Verhal-tensweisen den Forderungen der Gesellschaft angepaßt werden können“.69 Mit der Strei-chung der Homosexualität aus der Liste der psychiatrischen Erkrankungen (ICD-10: 1992, DSM-III-R: 1987) entfiel dieser zweifelhafte „Indikationsbereich“ für psychochir-urgische Interventionen. Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll, dass die Definition von gesund versus psychisch krank dem Zeitgeist und der jeweiligen sozialen und weltan-schaulich-religiösen Einschätzung unterworfen ist. Es besteht die ernstzunehmende Gefahr des Missbrauchs psychochirurgischer Verfahren zur Ausschaltung politisch un-erwünschter Personen.
Problematisch im Hinblick auf den Wirksamkeitsnachweis psychochirurgischer In- terventionen ist, dass doppelblinde placebokontrollierte (sham intracranial surgery) Studien aus ethischen Gründen nicht zulässig sind, handelt es sich doch um invasive Eingriffe mit dem Risiko irreversibler Persönlichkeitsänderungen. Somit sind psycho-chirurgische Verfahren in der heutigen Ära der evidence-based medicine ein Anachronis-mus.70 Es besteht Konsens darüber, dass ablative/destruktive psychochirurgische Ver-fahren allenfalls bei schweren therapierefraktären psychiatrischen Erkrankungen zum Einsatz kommen dürfen, wenn also psychopharmakologische, psychotherapeutische und andere Verfahren (Elektrokonvulsionstherapie, EKT) erfolglos waren. Die Indika-tionsstellung erfordert wegen der Irreversibilität des Eingriffs eine besonders sorgfältige Anamnese- und Befunderhebung. Problematisch ist auch die Einwilligung (informed consent) bei einer schweren psychiatrischen Erkrankung.71 Die Einwilligungsfähigkeit muss individuell sorgfältig geprüft werden.72 Ethisch sehr problematisch ist bei diesen Eingriffen, bei denen neuronale Strukturen irreversibel zerstört werden, die Einwilli-gung durch eine andere Person (proxy consent), falls der Patient aufgrund seiner psy-chischen Störung nicht einwilligungsfähig ist. Medizintheoretisch gesehen unterstützen psychochirurgische Verfahren grundsätzlich die Tendenz einer nosologischen Neuro- 67 Crossley/Freeman (2003), Anderson/Booker (2006).
68 Hall (2006). So wurden in China über 500 und in Russland 305 heroinabhängige Patienten stereotaktisch operiert. Hier- bei handelte es sich um destruierende irreversible Eingriffe in das limbische System. In China wurde der Nucleus accum-bens operativ destruiert, in Russland der Gyrus cinguli. Die Effekte im Hinblick auf Persönlichkeitsveränderungen bzw. Regulation von Emotionen sind ungewiss. Zu kritisieren ist, dass kein Vergleich mit einer effektiven Standardtherapie erfolgte. So ist eine Therapie mit Opiat-Agonisten (Methadon oder Buprenorphin) in China und Russland nicht erlaubt.
71 Besonders problematisch ist die Validität des informed consent für Psychochirurgie, wenn dieses Verfahren als „last resort“ angesehen wird für eine schwere und bisher therapierefraktäre psychiatrische Störung (Persaud [2003]). 72 Glannon (2006), S. 47: „[P]atients may undergo such a procedure out of a desperate desire for relief from their symp- toms. This desperation may impair their ability to rationally weigh the benefi ts against the risk.“ biologisierung und einer symptomatischen Therapiezentrierung.73 Die verengte neuro-wissenschaftliche Perspektive führt zu einer Pathologisierung des von der Norm abwei-chenden Individuums, während psychosoziale Ursachen von psychischen Störungen ausgeblendet werden.
4.2 Neurostimulation
Neuere Verfahren der „Neurostimulation“ gelten insgesamt als ethisch weniger bedenk-lich, da sie im Unterschied zu den ablativ-destruierenden psychochirurgischen Verfah-ren reversibel seien. Doch handelt es sich auch hier um invasive neurochirurgische Interventionen mit möglichen schwerwiegenden Komplikationen wie Hirnblutungen. Die tiefe Hirnstimulation (DBS: deep brain stimulation) wird bei neurologischen Er-krankungen wie Morbus Parkinson (elektrische Stimulation des Nucleus subthalamicus) und Epilepsie erfolgreich angewandt. Auch bei psychiatrischen Erkrankungen wie the-rapieresistenten Depressionen und Angst- bzw. Zwangsstörungen wird die Neurosti-mulation als Therapieoption diskutiert und experimentell erprobt.74 Zu betonen ist, dass die „Neurostimulation“ nur das reversible Äquivalent zu den ablativen psychochirurgischen Verfahren darstellt, da die „Stimulation“ eine funktionelle Hemmung der neuronalen Aktivität bewirkt.75 Für diese Methode ist also das Oxymoron „inhibierender Stimulator“ zutreffend. Bei therapieresistenten Depressionen wird die Elektrokonvulsionstherapie als – entgegen der weitverbreiteten Meinung – wenig inva-sive Therapiemethode seit langem mit Erfolg durchgeführt, besonders bei der psycho-tischen Depression. Im experimentellen klinischen Stadium sind die transkranielle Magnetstimulation (TMS) und die Vagus-Nerv-Stimulation (VNS). Das Hauptproblem dieser neuen Verfahren ist, dass die Langzeiteffekte aufgrund fehlender Langzeitdaten derzeit nicht abschätzbar sind.
et al. (2005): In Mexico City wurde jüngst bei einer Patientin mit „therapieresistenter“ Depression, Border- line-Persönlichkeitsstörung und Essstörung (Bulimie/binge eating) eine tiefe Hirnstimulation im Pedunculus thalami inferior durchgeführt. Diese Kasuistik zeigt eindrucksvoll die komplexe ethische Problematik dieser als weniger invasiv geltenden Methode. Durch die Elektrodenimplantation kam es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu sogenannten „Mikro“-Läsionen von gesundem Hirngewebe, was als „collateral damage“ unvermeidlich ist. Der bagatellisierende Terminus Mikro-Läsion bezieht sich lediglich darauf, dass Läsionen neuroradiologisch nicht nachweisbar sind, wobei auch kleine (unsichtbare) Läsionen funktionell durchaus von erheblicher Relevanz sein können. Es ist fraglich, ob die Patientin tat-sächlich „therapieresistent“ war. Sie wurde zwar präoperativ mit verschiedenen Antidepressiva behandelt, allerdings nur in mittlerer Dosierung; die Dauer der jeweiligen medikamentösen Behandlungsversuche ist nicht angegeben. Klas-sische tricyclische Antidepressiva oder MAO-Hemmer kamen nicht zum Einsatz. Auch waren die psychotherapeutischen Optionen keineswegs ausgereizt, was angesichts der Essstörung und der Achse-II-Störung sicherlich aussichtsreich ge-wesen wäre. So fanden lediglich 20 Sitzungen kognitiver Therapie statt. Die Psychotherapie wurde nicht fortgesetzt aufgrund fi nanzieller (!) Probleme. Stattdessen wurde nach zwei erfolglosen Serien Elektrokonvulsionstherapie (EKT) die neurochirurgische Operation durchgeführt, die sicherlich teurer gewesen sein dürfte als eine Psychotherapie. Es stellt sich die Frage, ob die Patientin angesichts der schwer ausgeprägten depressiven Symptomatik einwilligungsfähig (informed consent) war. Ethisch bedenklich ist zudem, dass die Antidepressiva präoperativ abgesetzt wurden, obwohl die Patientin zwei Suizidversuche unternommen hatte und persistierende Suizidgedanken aufwies. Das Absetzen der Medikation führte denn auch prompt zu einem Anstieg der Hamilton-Depressions-Scores von 33 auf 42. Problema-tisch ist ferner, dass die chronische Elektroden-Stimulation trotz Besserung der Symptomatik dann – offensichtlich aus purem wissenschaftlichen Interesse – abgeschaltet wurde. Es geht aus der Publikation nicht hervor, dass dies nach einem vorab festgelegten und von Patientin und Untersuchern unterschriebenen Protokoll mit defi nierten Erfolgs- oder Abbruchkriterien geschah. Es ist vielmehr von einem doppelblinden Design die Rede, bei dem auch die Patientin nicht wusste, dass die Stimulation abgeschaltet war. Auch nach Ausschalten der Stimulation blieb der Zustand zunächst sta-bil. Wegen Exazerbation der depressiven Symptomatik wurde dann nach 20 Monaten wieder stimuliert. Die Publikation lässt auf eine paternalistisch-direktive Patientenführung schließen. Die Neurostimulation hatte keinen positiven Effekt auf die Essstörung und die Borderline-Störung.
Geschichte der Psychopharmakologie
Die Bezeichnung „Psychopharmakon“ tauchte nach derzeitigem philologischem Kennt-nisstand erstmals 1548 in einem Buchtitel auf.76 Während des 19. Jahrhunderts war Opium das Hauptmittel der psychiatrischen Pharmakotherapie.77 Das erste synthetische Psychopharmakon, das Hypnotikum Chloralhydrat, wurde 1832 von Justus von Liebig synthetisiert.78 Die hypnotische Wirkung wurde 1869 von Oscar Liebreich (1839–1908) beschrieben.79 Die psychopharmakologische Ära beginnt jedoch Anfang der 1950er Jah-re mit der Entdeckung der antipsychotischen Wirkung von Chlorpromazin, dem ersten Neuroleptikum, durch Jean Delay und Pierre Deniker 1952. Die antipsychotische Wirk-samkeit wurde „zufällig“ entdeckt. Zunächst setzte man die Substanz in der Militärchir-urgie zur Verbesserung der Narkose ein und wollte einen künstlichen Winterschlaf („hibernation artificielle“) erzeugen.80 Die Entdeckung des ersten Neuroleptikums führ-te zu einem Paradigmenwechsel in der Psychiatrie und leitete die Ära der biologischen Psychiatrie ein. Bis zum Anfang der 1950er Jahre waren tiefenpsychologische Erklä-rungsansätze im Vorteil gegenüber den biologischen Ansätzen der Psychiatrie, da sie ein in sich schlüssiges ätiologisches Konzept offerierten, aus dem sich Interventions-strategien ableiten ließen. Zudem konnte die Psychoanalyse auf eine lange ideenge-schichtliche Tradition zurückblicken. Die psychopharmakologische Ära begann, als syndromspezifisch wirksame Pharmaka zur Verfügung standen.81 Im Zusammenhang mit derartigen „Zufallsbefunden“ wird häufig der Begriff „Se- rendipity“ benutzt.82 Charakteristisch für die Psychopharmakologie ist, dass die „zufäl-lig“ entdeckten Psychopharmaka zur Formulierung von ätiologischen Konzepten ex juvantibus führten.83 So entwickelte Arvid Carlsson nach der Entdeckung der antipsy-chotischen Wirksamkeit des Chlorpromazins die Dopamin-Hypothese der Neuroleptika, 76 Weber (1999), S. 31: Reinhardus Lorichius (Hadamarius), Psychopharmakon, hoc est: medicina animae, gewidmet Lud- wig Graf von Stolberg. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine pharmakologische Abhandlung der Renaissance, sondern um die humanistenlateinische Übersetzung eines deutschsprachigen christlichen Textes des ausgehenden Mit-telalters. Die ursprüngliche Bedeutung umfasste ausschließlich Methoden der religiösen Erbauung zur Lebensbewälti-gung.
77 Schott/Tölle (2006), S. 481.
78 Ebd., 79 Weber (1999), S. 61–70.
80 Ebd., S. 133 ff., Shorter (1997), S. 246 ff.
S. 26–30: „Serendipity“ wird meist im Sinne von „zufälliger Fund“, „unbeabsichtigtes und nicht vorhersehbares Nebenprodukt“, „glückliche Fügung“, „by chance“ oder „accidental“ benutzt. Als Serendipities gelten auch die Entde-ckung des amerikanischen Kontinents durch Kolumbus, der Porzellanherstellung, der Röntgenstrahlung und des Penicil-lins. Das Wort geht zurück auf den in Delhi lebenden Hofpoeten Amīr Khusrau (1253–1325), der das Epos „Hasht bihisht“ („Acht Paradiese“) 1302 beendete. Die erste Erzählung dieser Sammlung schildert die Erlebnisse der Drei Prinzen von Serendip. Hierbei handelt es sich um ein fi ktives Land. Im arabischen Mittelalter wurde die heutige Insel Sri Lanka (Cey-lon) mit dem geographischen Eigennamen „Sarāndīb“ bezeichnet. Die drei Prinzen geraten in märchenhafte Abenteuer, die jeweils durch völlig unerwartete und nicht beabsichtigte Lösungen verwickelter Situationen glücklich enden. Eine französische Version des Textes wurde 1719 von Chevalier de Mailly mit dem Titel Le Voyage et les aventures des trois princes de Serendip veröffentlicht. Diesen Text las Horace Walpole (1717–1797). In einem Brief an seinen Freund Sir Horace Mann benutzte Walpole 1754 erstmals den Begriff Serendipity in der heute üblichen Bedeutung: „discoveries by accidents and sagacity, of things they were not in quest of“. Die Gleichsetzung von Serendipity mit Zufall vernachläs-sigt die Innovationskraft, die (geniale) Intuition, den Scharf- und Spürsinn. Walpole verwendet den Begriff „sagacity“. Das lateinische „sagax“ bedeutet: „etwas leicht spürend oder wahrnehmend, insbesondere mittels des Geruchssinns“. Dem entspricht die umgangssprachliche Wendung „den richtigen Riecher für etwas haben“. „Serendipity ereignet sich, wenn ein Wissenschaftler aufgrund seiner persönlichen Eigenschaften die Möglichkeiten ergreift, die in einem spezi-fi schen Moment der wissenschaftshistorischen Entwicklung seines Fachgebiets vorhanden sind, aber noch nicht ge-nutzt wurden.“ (Weber [1999], S. 29). woraus die Dopamin-Hypothese der Schizophrenie abgeleitet wurde. Analog wurde aus dem Wirkprinzip der tricyclischen Antidepressiva (Hemmung der Rückaufnahme von Noradrenalin und Serotonin) die Amin-Mangel-Hypothese der Depression entwickelt.84 In der Entwicklung der Neuroleptika folgten die Butyrophenone wie Haloperidol und Benperidol als hochpotente Neuroleptika. Eine Zäsur in der neuroleptischen Therapie stellte die Einführung des ersten „atypischen“ Neuroleptikums Clozapin dar. Mit dem unglücklich gewählten Begriff „atypisch“ ist gemeint, dass die Substanz stark antipsy-chotisch wirkt (intendiert), jedoch nicht wie klassische hochpotente Neuroleptika (Ha -loperidol, Benperidol) extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen aufweist (Frühdys-kinesien, Parkinsonoid, Akathisie, neuroleptikainduzierte tardive Dyskinesien). Hanns Hippius und Günter Stille stellten 1971 auf dem 5. Weltkongress für Psychiatrie die pa-radigmatische Besonderheit von Clozapin heraus, das ab 1972 unter dem Handelsnamen Leponex® erhältlich war. Aufgrund gefährlicher Blutbildveränderungen (Agranulozyto-se) wurde die Substanz in der Folgezeit weniger eingesetzt, erlebte dann aber ab den 1990er Jahren eine Renaissance, wobei ein Einsatz heute nur dann zulässig ist, wenn andere Substanzen unwirksam waren und regelmäßige Blutbildkontrollen gewährleis-tet sind. Ab Mitte der 1990er Jahre folgten dann weitere „atypische“ Neuroleptika, die heute besser „Antipsychotika der neueren Generation“ genannt werden: Risperidon, Olanzapin, Quetiapin, Amisulprid, Ziprasidon und Aripiprazol. Die Einführung der Antipsychotika war eine wesentliche Voraussetzung für den Wandel von der kustodialen Verwahr-Psychiatrie hin zu einer therapeutischen Disziplin. Erst die Möglichkeit einer effektiven Behandlung von Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis ermögli-chte die sozialpsychiatrischen Reformen (Psychiatrie-Enquête 1971).
Die antidepressive Wirkung des ersten trizyklischen Antidepressivums Imipramin wurde von dem schweizerischen Psychiater Roland Kuhn 1957 beschrieben. Im selben Jahr war auch der erste Monoaminooxidase-Hemmer (MAO-Hemmer) Iproniazid ver-fügbar. Iproniazid wurde vermarktet als „psychic energizer“, da es aus Hydrazin, einem Raketenbrennstoff, gewonnen wurde.85 Als weiterer irreversibler nicht-selektiver MAO-Inhibitor folgte das auch heute noch eingesetzte Tranylcypromin. Eine Weiterentwick-lung mit weniger Nebenwirkungen stellt der reversible und selektive Inhibitor der Mo-noaminooxidase-A (MAO-A) Moclobemid dar. Eine wesentliche Innovation waren die ab den 1980er Jahren verfügbaren selektiven Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSRIs), die deutlich weniger Nebenwirkungen haben als tricyclische Antidepressiva. Insbesondere treten keine anticholinergen Nebenwirkungen auf. Die Substanzen sind besser verträglich und können aufgrund der nicht vorhandenen Kardiotoxizität auch bei älteren Patienten eingesetzt werden. Die erste Substanz war Fluoxetin (Prozac®, Fluc-tin®); es folgten Sertralin, Paroxetin, Citalopram, Escitalopram und andere. Weitere neuere Substanzen sind selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hem-mer (SSNRI) wie Venlafaxin und Duloxetin sowie die noradrenerg und spezifisch sero-tonerg wirksame (NaSSA) Substanz Mirtazapin, die präsynaptische α2-Adrenozeptoren (Autorezeptoren) blockiert.
Die phasenprophylaktische Wirksamkeit von Lithium wurde in den 1960er Jahren entdeckt. Als weitere Mood-Stabilizer folgten die Antikonvulsiva Carbamazepin und Valproinsäure. Als erster Tranquilizer wurde 1960 das Benzodiazepin Chloridazepoxid eingeführt, Diazepam (Valium®) folgte 1963. Weitere Substanzklassen sind Antidemen- 84 Wie sehr es sich hier um heuristische Hilfskonstrukte handelt, zeigt das Beispiel von Tianeptin, das einen diametral ent- gegengesetzten Wirkmechanismus aufweist wie Paroxetin (SSRI). Tianeptin steigert die Rückaufnahme von Serotonin in präsynaptische Nervenendigungen, vermindert also die Konzentration von Serotonin im synaptischen Spalt. Intuitiv wäre eine depressiogene Wirkung zu vermuten. Tatsächlich ist Tianeptin jedoch antidepressiv wirksam und wird in Frankreich und Österreich als Antidepressivum eingesetzt. Vgl. Nickel et al. (2003).
tiva (Acetylcholinesterase-Hemmer wie Donepezil, Galantamin und Rivastigmin sowie NMDA-Antagonisten wie Memantine). Zu den Psychostimulanzien zählt Methylphe-nidat (Ritalin®), das bei ADHS (attention deficit hyperactivity disorder) eingesetzt wird, und Modafinil (Vigil®) zur Behandlung der Narkolepsie.
Neuroenhancement aus ethischer Sicht
Ethische Probleme bringt der Off-label-Einsatz psychoaktiver Substanzen bei Gesunden als „lifestyle drugs“ mit sich, der als Neuroenhancement bezeichnet wird.86 Man kann unterscheiden zwischen kognitivem und affektivem Enhancement. Ein Beispiel für kognitives Enhancement ist Modafinil (Vigil®), das zu den Psychostimulanzien („alert-ness-enhancing drugs“) zählt und indiziert ist zur Behandlung der Narkolepsie. Moda-finil verbessert die bei dieser Krankheit vorhandenen imperativen Einschlafattacken und die Tagesmüdigkeit. Auch bei Gesunden werden Wachheit und Leistungsfähigkeit durch Modafinil gesteigert, was einen missbräuchlichen Einsatz fördert. Es ist zu be-fürchten, dass eine durch Modafinil induzierte Schlafdeprivation nachteilige Effekte auf die Plastizität des Gehirns haben und die Konsolidierung neu gelernter Informa -tionen im Gedächtnis behindern könnte. Neuartige pharmakologische Ansätze zielen darauf ab, die Gedächtnisleistungen zu steigern (memory-enhancing ‚smart drugs‘). Der Einsatz von Pharmaka, die Wachheit und Gedächtnisleistungen steigern, könnte zu einem „Hirn-Doping“ führen. Dadurch könnten diejenigen, die Zugang zu derar-tigen Medikamenten haben und sich diese finanziell leisten können, Vorteile erwerben gegenüber sozial benachteiligten Menschen. Es ist davon auszugehen, dass durch Neu-roenhancement das bereits bestehende soziale Gefälle eher verstärkt als abgemildert wird.87 Einem affektiven Enhancement (oder „mood enhancement“) durch den Einsatz von neueren Antidepressiva (SSRIs) bei Gesunden sind derzeit jedoch enge Grenzen gesetzt, da die positiven Effekte derartiger Medikamente bei Gesunden minimal sind. SSRIs wirken nur bei einer affektiven Störung stimmungsaufhellend, verschieben je-doch nicht eine bereits bestehende „Euthymie“ in die Hypomanie. Antidepressiva wir-ken nicht euphorisierend. Es sind also keine „happy pills“. Analog reduziert ein fieber-senkendes Medikament nur eine krankhaft erhöhte Körpertemperatur, führt beim Ge-sunden jedoch nicht zur Auskühlung. Medizinethisch ist relevant, dass die Toleranz gegenüber unerwünschten Wirkungen bei „lifestyle drugs“ sehr viel geringer sein muss als bei einem therapeutischen Einsatz. Die Nutzen-Risiko-Abwägung fokussiert bei nicht vorhandener medizinischer Indikation ähnlich wie bei schönheitschirurgischen Eingriffen auf das Prinzip des nil nocere (non maleficience), hier sogar auf die Erhaltung der Gesundheit. Zu beachten sind in diesem Kontext unkalkulierbare Langzeiteffekte. Ein sozialer Aspekt betrifft den Druck, vorhandene Möglichkeiten auszuschöpfen. Dies führt zu einer Eigendynamik, wie das Beispiel des Dopings im Radsport eindrücklich zeigt. Für den Einzelnen ist es aufgrund des Konkurrenzdrucks sehr schwer, sich dieser weitverbreiteten Praxis zu entziehen und „clean“ zu bleiben. Die neuen Möglichkeiten könnten diejenigen benachteiligen und diskriminieren, die derartige Mittel entweder 86 Für Details hierzu siehe auch Groß (2007a und b) in diesem Band. – Auch von nicht-pharmakologischen Verfahren wie der transkraniellen Magnetstimulation (TMS) erhofft man sich Steigerungen der kognitiven und mnestischen Funk -tionen. Als moderne Variante des „Nürnberger Trichters“ wird eine Kappe („brain cap“) als „IQ-Kappe“ und als Weg zur „Hyper-Intelligenz“ in der Laienpresse propagiert. Durch TMS könne das Gehirn angeblich zu Höchstleistungen ge-trimmt werden. Siehe die September-Ausgabe von P.M. 2006, Editorial, S. 9, und den Artikel „So werden Sie ein Genie“ von Ingo Lackerbauer, S. 12–20. 87 Glannon (2006), S. 51: „Any benefi cial options of enhancement would probably come on top of existing social inequality and would more likely exacerbate than ameliorate it.“ aus Überzeugung nicht einsetzen wollen oder mangels finanzieller Möglichkeiten nicht anwenden können. Dadurch könnte die soziale Pyramide noch steiler werden. Ein Missbrauchspotential besteht in der militärischen Anwendung. In der Vergangenheit wurde Amphetamin bereits bei Soldaten zur Leistungssteigerung in Kampfsituationen eingesetzt.88 Die Grenze zwischen dem, was als pathologisch definiert bzw. als „normal“ toleriert wird, hängt von soziokulturellen Faktoren und vom Zeitgeist ab. Zudem be-einflussen die zur Verfügung stehenden pharmakologischen Optionen wesentlich un-sere Unterscheidung zwischen pathologisch-unerwünschten und angestrebt-er-wünschten mentalen Zuständen.89 Geht man von der heute gängigen Praxis aus, auf-merksamkeitsgestörte und hyperaktive Kinder mit Methylphenidat (Ritalin®) und de-pressive Schulkinder mit SSRIs zu behandeln, erscheint es wahrscheinlich, dass in Zukunft Antidementiva wie Acetylcholinesterase-Inhibitoren oder NMDA-Antagonisten auch bei leichten kognitiven Defiziten, die man früher noch als normale Altersvergess-lichkeit bezeichnet und fatalistisch hingenommen hat, vermehrt eingesetzt werden. Große Markt zum Einsatz kommen chancen dürften in Zukunft wirksame, jedoch ne-benwirkungsarme Appetitzügler und zentral wirksame Substanzen zur Steigerung der Libido haben.
Libet-Experimente und der neurophilosophische Diskurs
zur Willensfreiheit

Benjamin Libet kam 1983 aufgrund einer experimentellen Studie zu dem Ergebnis, dass willkürlich initiierten Körperbewegungen ein Bereitschaftspotential vorausgeht, das 550 ms vor der Handlung einsetzt. Die Versuchspersonen wurden sich der Handlungs-intention erst 350–400 ms nach dem Bereitschaftspotential bewusst. Nach dem Bewusst-werden des Handlungsimpulses folgte dann die motorische Aktivität nach 200 ms. Diese Befunde wurden durch neuere Experimente von Patrick Haggard und Martin Ei-mer bestätigt.90 Aus diesen Experimenten wurde eine unbewusste Initiierung der Will-kürhandlung gefolgert.91 Allerdings hat der Akteur die Option, bewusst auf die Handlung Einfluss zu nehmen. Er kann die unbewusst initiierte Handlung nach ihrer Bewusst-werdung durch ein willentliches Veto verbieten. Das experimentelle Design Libets er-laubt allerdings keine Aussage darüber, ob auch dieses bewusste Veto möglicherweise einen unbewussten Ursprung hat. Für Libet sind seine eigenen Experimente keineswegs Anlass, die Freiheit des Willens in Zweifel zu ziehen. Vielmehr betont er das intuitive 91 Die Interpretation, der Handlungsimpuls sei durch eine bestimmte Gehirnstruktur unbewusst initiiert worden, ist be- haftet mit dem mereologischen oder Homunkulus-Fehlschluss. Dabei werden neuronale Strukturen als subpersonale Instanzen betrachtet, die dann anthropomorphistisch zu Homunkuli gemacht werden, da ihnen Eigenschaften bzw. Fähigkeiten zugeschrieben werden, die sinnvollerweise nur von Personen ausgesagt werden können (Schäfer [2005]).
Die Interpretation der Befunde von Libet und Haggard/Eimer als empirische Belege gegen die Existenz der Willens-freiheit wird von Pauen aus methodischen Gründen kritisiert. Zum einen ist die Gleichsetzung des bewussten Dranges („urge“) mit der bewussten Intention/Entscheidung problematisch. Pauen betont zu Recht, dass es unklar ist, ob das, was Libet misst, tatsächlich die Entscheidung ist. Außerdem erscheint es fraglich, dass das Bereitschaftspotential defi ni-tiv das Verhalten der Versuchsperson festlegt. Aus der zeitlichen Abfolge zwischen Bereitschaftspotential und Handlung lässt sich kein Kausalzusammenhang ableiten. Bei 2 von 8 Versuchspersonen (mit frühen Entscheidungen) setzte das lateralisierte Bereitschaftspotential sogar erst nach (!) der Entscheidung ein (siehe Haggard/Eimer [1999], S. 132, Ta-belle 2, Versuchspersonen 5 und 8). Aufgrund von methodischen Erwägungen kommt Pauen zu dem Schluss, dass von einer Widerlegung der Willensfreiheit durch die Experimente von Libet und die Nachfolgeexperimente von Haggard/Ei-mer nicht die Rede sein könne (Pauen [2004], S. 196–209).
subjektive Gefühl der Willensfreiheit. Eine wissenschaftliche Theorie, die diese phäno-menale Tatsache leugne und als Illusion umdeute, sei weniger attraktiv als eine Theorie, die diese universale Erfahrung akzeptiere und sich ihr anpasse.92 Libet sieht die Rolle des bewussten freien Willens in der Kontrolle, ob die unbewusst eingeleitete Willens-handlung stattfinden soll oder nicht. Er geht davon aus, dass Gehirnprozesse durch bewusste mentale Prozesse kausal gesteuert werden können. Er hält es für denkbar, dass diese bewusste Kontrollinstanz nicht physisch ist.93 Dem kritischen Einwand von Her-bert Helmrich, das Bereitschaftspotential sei kein verlässlicher Indikator dafür, dass wir durch unbewusste Vorentscheidungen des Gehirns determiniert seien und nicht wil-lentlich anders handeln könnten,94 stimmt also Libet selbst zu.
Obwohl sich Libet gegen eine deterministische Interpretation seiner Experimente ausgesprochen hat,95 wird er häufig als Gallionsfigur für eine deterministische Position in Anspruch genommen. Wolfgang Prinz hält die Idee der Willensfreiheit mit empi-rischer Wissenschaft für unvereinbar. Die Basis der Wissenschaft sei ein universales Kausalitätsprinzip. Die Wissenschaft habe ein monistisches und deterministisches Men-schenbild. Die Alltagspsychologie sei hingegen dualistisch, indem sie zwischen men-talen und physischen Phänomenen unterscheide und annehme, der Geist regiere den Körper. Aus dieser alltagspsychologischen Fehleinschätzung, die nicht mit wissenschaft-licher Empirie vereinbar sei, resultiere die Illusion der Willensfreiheit.96 Wolf Singer vertritt Positionen, die Parallelen zum philosophischen Diskurs des 19. Jahrhunderts aufweisen. Singer geht davon aus, dass bei Entscheidungsprozessen unbewusste Fak-toren eine zentrale Rolle spielen und dass introspektiv lediglich die Illusion von Freiheit und Intentionalität entsteht.97 Eine ähnliche Position vertrat vor mehr als 150 Jahren bereits Arthur Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Freiheit des Willens von 1839. Schopenhauer betonte unbewusste motivationale Faktoren bei Entscheidungspro-zessen. Er ging davon aus, dass eine Handlung kausal determiniert wird durch das jenige Motiv, das am stärksten auf den angeborenen Charakter einwirkt. Die Handlung ist nach Schopenhauer das notwendige Produkt aus Motiv und Charakter. In der Introspektion entsteht lediglich die Illusion von Willensfreiheit dadurch, dass Handlungsfreiheit (ich kann tun, was ich will) mit eigentlicher Willensfreiheit (ich kann wollen, was ich will) verwechselt wird. Der Mensch ist nach Schopenhauer deliberationsfähig, kann also im Gedankenexperiment verschiedene Motive auf seinen Charakter wirken lassen. Aller-dings zeigt sich die unbewusst sich vollziehende Willensentscheidung erst in der Tat. Schopenhauer rekurriert auf die scholastische Formel operari sequitur esse. Zu einem ähnlichen Resultat kommt auch Singer: „Keiner kann anders, als er ist.“98 Wissenschaftshistorisch ist interessant, dass es eine zu den Neurowissenschaften gegenläufige Entwicklung hinsichtlich deterministischer Positionen in „harten“ natur-wissenschaftlichen Disziplinen gibt: Während die moderne Physik indeterministische und probabilistische Modelle eingeführt hat, florieren deterministische Positionen in 92 Libet (2004), S. 286.
93 Libet (2005), S. 205. Damit vertritt Libet eine dualistische Position. Er geht davon aus, dass neuronale Gehirnprozesse, die unbewusst entstehen, gesteuert und kontrolliert werden durch bewusste mentale Prozesse, die aber nicht physisch seien. Daraus ergibt sich das Problem der mentalen Verursachung bzw. der Wechselwirkung zwischen dieser immate-riellen geistigen Entität mit materiellen Gehirnprozessen. Wie soll eine immaterielle Entität kausal auf physiologische Prozesse einwirken? Dieses Verursachungs- und Wechselwirkungsproblem ist mit bekannten Naturgesetzen unverein-bar. Siehe Singer (2004), S. 38 und S. 57.
94 Helmrich (2004), S. 96.
95 Christian Geyer: „Ich weiß nicht mehr, ob ich Determinist werden will“, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 43 den Neurowissenschaften und in der Psychologie.99 Eine harte deterministische Posi tion vertritt beispielsweise Ted Honderich.100 Friedrich Nietzsche forderte als Konsequenz aus dem „Irrthum vom freien Willen“, dass der Mensch moralisch und strafrechtlich nicht für seine Taten verantwortlich sei. Nach Nietzsche ist die Lehre von der Willensfreiheit „wesentlich erfunden [worden] zum Zweck der Strafe, das heisst des Schuldig-finden-wollens“.101 Singer meint, eine deter-ministische Sichtweise „könnte zu einer humaneren, weniger diskriminierenden Beur-teilung von Mitmenschen führen, die das Pech hatten, mit einem Organ volljährig ge-worden zu sein, dessen funktionelle Architektur ihnen kein angepaßtes Verhalten er-laubt. Menschen mit problematischen Verhaltensdispositionen als schlecht oder böse abzuurteilen bedeutet nichts anderes, als das Ergebnis einer schicksalhaften Entwick-lung des Organs, das unser Wesen ausmacht, zu bewerten.“102 Das andere Extrem, eine streng indeterministische Position, hebt moralische und strafrechtliche Verantwortlichkeit aber ebenfalls auf. Völlig undeterminierte Ereignisse oder Entscheidungen sind nur denkbar als zufällig, unerklärlich und unvorhersehbar. Solche Entscheidungen stehen nicht unter der Kontrolle des Akteurs. Folglich kann er für solche Zufallsereignisse auch nicht verantwortlich gemacht werden.103 Repräsentan-ten des kausalen Indeterminismus wie Robert Kane gehen davon aus, dass Handlungen kausal aus Gründen („reasons“)104 resultieren. Kausal bedeutet jedoch nicht determiniert. Gründe können inklinierend wirken, ohne die Handlung notwendig kausal zu determi-nieren („incline without necessitating“).105 Aus einer deterministischen Position resultiert jedoch nicht zwangsläufig die Forderung, das Strafrecht müsse reformiert werden. Die meisten Philosophen und Wissenschaftler vertreten eine kompatibilistische Auffassung, wonach Determinismus und moralische/strafrechtliche Verantwortlichkeit miteinander vereinbar seien.106 Bereits Schopenhauer vertrat in seiner Preisschrift über die Freiheit des menschlichen Willens (1839) eine kompatibilistische Position. Trotz seines strengen psychologischen Determinismus sprach er sich dafür aus, dass der Mensch verantwort-lich sei für sein Tun. Als Begründung rekurriert er auf den aristotelischen Begriff der intellektuellen Freiheit, die eingeschränkt oder aufgehoben sei, wenn „das Erkenntniß-vermögen [.] zerrüttet“ oder reversibel in seiner Funktion gestört sei, zum Beispiel durch psychische Störungen, im Rausch oder bei Affektdelikten.107 Analog beurteilt die moderne forensische Psychiatrie die Schuldfähigkeit: „Eine krankhafte Beeinträchtigung unserer Entscheidungsfreiheit liegt dann vor, wenn beispielsweise durch einen akuten Wahn oder durch Abhängigkeit von einem Suchtmittel unsere Freiheitsgrade stark 99 Kane (2002), S. 7 ff.
100 Honderich (1995).
101 Nietzsche (1988), S. 7. „Die Menschen wurden ‚frei‘ gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können, – um schul- dig werden zu können: folglich musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden“ (ebd.).
102 Singer (2004), S. 63.
103 „It appears that the indeterminism that libertarians demand for free will would not in fact enhance freedom but would undermine it.“ Kane (2002), S. 23.
104 Die Unterscheidung zwischen Gründen und Ursachen fi ndet sich bereits bei Platon (Phaidon 97b-99d). Auf die Frage, warum Sokrates nicht aus dem Gefängnis fl oh, gibt es zwei Arten von Antworten: Die Antwort, weil sich seine Sehnen und Knochen nicht bewegten, zielt auf physikalische Ursachen. Die Antworten, weil er den Gesetzen des Staates ge-horchen wollte, zielt auf die Gründe. Gründe bestimmen menschliche Handlungen, ohne sie zu verursachen. Die Inten -tionalität menschlicher Handlungen sei ein wesentlicher Unterschied gegenüber physikalischen Ereignissen (Schocken-hoff [2004]).
105 Kane (2002), S. 26.
106 John R. Searle lehnt kompatibilistische Positionen ab und hält den Determinismus grundsätzlich für unvereinbar mit Willensfreiheit (Searle [2004], S. 22).
reduziert oder aufgehoben sind.“108 „Wir sind strafrechtlich verantwortlich, wenn wir imstande sind, unsere Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu ma-chen, wenn wir also imstande sind, unsere Wünsche kritisch zu bewerten.“109 8 Skeptischer
Ausblick
Angesichts der Euphorie einiger Neurowissenschaftler, die aus empirischen Befunden weitreichende Konsequenzen ableiten und Willensfreiheit sowie Verantwortungs- und Schuldfähigkeit bestreiten, besteht die Gefahr einer Hirnmythologie. Neurowissen-schaftler, die die Willensfreiheit anzweifeln, nehmen einen naturalistischen und non-kompatibilistischen Standpunkt ein. Julian Nida-Rümelin betrachtet den Versuch einiger Neurowissenschaftler, mentale Vorgänge auf neuronale Vorgänge vollständig zurück-zuführen, als eine „reduktionistische Metaphysik“. Aufgrund der Fortschritte der pro-babilistischen Kausalitätstheorie sei es notwendig, den Kausalitätsbegriff endgültig von deterministischen Verlaufsgesetzen abzulösen. Die enge Verkoppelung von Determi-nismus und Kausalität sei aufzugeben. Für Julian Nida-Rümelin ist die Vermutung, dass die jeweiligen Hirnzustände vollständig durch genetische Faktoren und Umwelteinflüs-se determiniert seien, eher eine „spekulative Metaphysik“ als ein empirischer Befund. Er weist darauf hin, dass die prognostischen Fähigkeiten der Neurowissenschaften bis dato weit schwächer ausgeprägt sind als die der Alltagspsychologie. Seine Bilanz für die Neurowissenschaften im Hinblick auf eine grundsätzliche Revolution der Anthropolo-gie fällt nüchtern aus: „Die Naturwissenschaften, einschließlich der Neurophysiologie, sind gegenwärtig jedenfalls noch weit davon entfernt, unsere Deliberationen, emotio-nalen Verfasstheiten und Handlungen im Zeitverlauf vollständig erklären und prognos-tizieren zu können.“110 Danksagung
Ich danke Florian Steger herzlich für die kritische Durchsicht des Manuskripts.
Literatur
Anderson/Booker (2006): Shawanda W. Anderson, Marvin B. Booker, Cognitive Behavioral Therapy Versus Psychosurgery for Refractory Obsessive-Compulsive Disorder, J Psychiatry Clin Neurosci 18 (2006), p. 129 Birbaumer (2004): Niels Birbaumer, Hirnforscher als Psychoanalytiker, in: Christian Geyer (Hrsg.), Hirnfor-schung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente, Frankfurt a. M. 2004, S. 27–29 Breidbach (1997): Olaf Breidbach, Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997 Burckhardt (1891): Gottlieb Burckhardt, Ueber Rindenexcisionen, als Beitrag zur operativen Therapie der Psychosen, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 47 (1891), S. 463–548 Crossley/Freeman (2003): David Crossley, Chris Freeman, Should neurosurgery for mental disorder be allowed to die out? Against, British Journal of Psychiatry 183 (2003), p. 196 Dalgleish et al. (2004): Tim Dalgleish, Jenny Yiend, Jessica Bramham et al., Neuropsychological Proces-sing Associated With Recovery From Depression After Stereotactic Subcaudate Tractotomy, American Journal of Psychiatry 161 (2005), p. 1913–1916 108 Kröber (2004), S. 107.
109 Ebd., S. 109.
110 Nida-Rümelin (2005), S. 171.

Source: http://www.minerva-kg.de/libraryonline/upload/files/file_5615.Sind_d_Gedanken_frei.pdf

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