eines schönen Morgens brechen wir mit John, dem amerikanischen Arzt, zu einer seiner Inspektionsfahrten auf. John betreut ein Trachoma-Programm der WHO hier in Guatemala. Die Indios aus den Bergdörfern gehen nie zum Arzt. Zum einen gibt es keinen Arzt in diesen Gegenden, zum zweiten käme der Besuch eines Arztes viel zu teuer, in der Tat so teuer, dass ein Indianer sich gar nicht vorstellen kann, jemals in seinem Leben einen Arzt aufzusuchen.
John spricht Cakchiquel, eine der zahlreichen Indianersprachen, die in den
Bergen Guatemalas gesprochen werden. Viele der Indios können kein Spanisch – man wird sehen, weshalb. Wir sind John dankbar, dass er uns mitnimmt. Allein kommt man in diesen Gegenden kaum durch, es gibt keine Wegweiser, keinerlei Beschilderung, die Dörfer liegen weit auseinander und oft genug versteckt abseits der Wege. Es ist Bürgerkrieg, und nur dank des Arztes brauchen wir keine Angst zu haben: Ihm wird schon keiner was antun.
Trachoma – das ist eine infektöse Erkrankung des Auges, die, unternimmt
man nichts dagegen, zur Blindheit führen kann. Die Krankheit ist weit verbreitet in den sogenannten Entwicklungsländern, Mangel an sauberem Wasser, von Latrinen oder Toiletten, generell Mangel an Hygiene begünstigen ihr Auftreten.
Während unseres Aufenthaltes hatten wir öfter schon von
Hilfsorganisationen frisch geschlagene Brunnen gesehen, auf denen bereits wieder ein rotumrandetes Schild hing, das vor Cholera warnte. Sein Geschäft besorgt man irgendwo im Wald, hinter Kukuruzstauden oder sonstwo. In den Hütten der Dörfler überall auch Hühner und anderes Kleinvieh; die Bettstellen untertags meist mit Plastikfolie abgedeckt – genau die Folie, aus der bei uns die Müllsäcke sind. Überall Fliegen.
Stundenlang geht es mit dem Jeep über enge Bergstraßen. Dann
aussteigen: Ein Indio aus der Gegend empfängt uns. Er wird John, und also auch uns, zu den Bergdörfern führen – ein Marsch von zwölf Stunden steht uns bevor.
In weiten Gegenden Guatemalas gibt es keine Straßen, das heißt, nicht
einmal Feldwege, die ein Auto befahren könnte. Die gewöhnliche Verbindung zwischen zwei Dörfern ist ein Fußpfad, der sich, bergauf und bergab, durchs Gelände schlängelt. Kleine Felder, so weit man schauen kann: Nur an den steilsten Bergflanken steht noch Wald, Urwald, der durch die Brennholz suchenden Einwohner immer weiter noch dezimiert wird. Die Indios kochen auf kleinen Holzherden, und so ist es auch der Rauch aus diesen Herden, der –Schornsteine gibt es nicht – sich kräuselnd aus den Dächern der Hütten steigt –er verrät als erstes, dass man sich einer Ansiedlung nähert.
Kommen wir näher an eins der Dörfer heran, beginnen die Hunde zu
bellen. Dann kommen, immer in dieser Reihenfolge, die Kinder gelaufen. Ihre Neugier ist groß, es kommt selten jemand vorbei, die Warnungen vor Fremden vergessen sie über ihrer Neugier. Jetzt humpelt ein Alter heran, eine alte Frau schaut, halb versteckt hinter einem Stück Vorhangstoff, aus dem Fenster einer der Hütten.
Jetzt, wir gehen schon die von vielen Füßen hartgetretene, von Abfällen
gesäumte Dorfstraße hinunter, zwischen die aus Holz gebauten Hütten hinein –Wellblechdächer sind weit verbreitet – da und dort treten Leute aus ihren Behausungen, sie haben schon durch Mundpropaganda gehört, dass ein Arzt durchkommen soll. Unser Führer wendet sich ans Publikum und verkündet, dass der amerikanische Arzt wegen der Augen gekommen sei. – Ja, da, und dort auch, gibt es einen, eine, die nichts sehen kann. Man führt sie her, führt sie John vor. Es sind schwere Fälle von Entropium und Trichiasis darunter, wo die Augenlider sich einrollen, ganz verschwollen alles – ein qualvoller Zustand vollkommener Blindheit: Es muß operiert werden. Die leichteren Fälle bekommen Antibiotika verabreicht, Zithromax – es wird schon helfen. Wieder und wieder schärft John den Leuten ein, auf Sauberkeit zu achten, von den Kranken sich möglichst fernzuhalten, insbesondere auf die Kinder aufzupassen. Während er mit dem Führer mit den Familien derjenigen, die zur Operation müssen, berät, wie das zu bewerkstelligen sei – es geht naturgemäß nie ohne Pallaver, ohne Tränen ab – viele dieser Leute sind über ihr Dorf, die Nachbardörfer, wenn’s denn hoch kommt, noch nie hinausgewesen – während John also beschäftigt ist, tun wir uns schüchtern im Dorf um.
Und deshalb erzähle ich Ihnen das heute: Wir stoßen, in einem der
größeren Dörfer war es, auf eine ganz leere Hütte, ohne jedes Möbel oder sonst eine Einrichtung. Wer wohnt denn dort, fragen wir später. – Das ist die Schule, ja, die Schule, erklärt man uns.
Jahre später, wir sind auf Taveuni, einer Insel südlich von Vanua Levu,
weit ab in der Südsee. Es gibt nur eine einzige befestigte Straße auf der Insel, sie führt mehr oder weniger an der Küste entlang, das Innere der Insel ist von Urwald bedeckt. Weil uns der Weg nach Somosomo, der einzigen größeren Ansiedlung da, eine Art von Marktflecken, in dem es auch ein Kaufhaus, ein Postamt, einen Friseur und ähnliches gibt, zu Fuß zu weit ist, leisten wir uns gelegentlich ein Taxi; der Bus, der zwei Mal pro Tag hier verkehrt, hat meist stundenlang Verspätung – was aber von den Einheimischen gar nicht besonders vermerkt oder beredet wird, man wartet eben, im Schatten unter einem Baum, im Schatten einer der Hütten.
Mit einem der Taxifahrer freunden wir uns an. Er heißt Neori und stellt
unter den Taxifahrern schon deshalb eine Ausnahme dar, weil er ein eingeborener Insulaner und kein Inder ist. Die Engländer, seinerzeit die Kolonialherren, haben die Inder als Arbeiter für ihre Plantagen auf die Insel gebracht – jetzt sind alle besseren Beschäftigungen in ihren Händen, den Insulanern bleiben für gewöhnlich Fischfang und Gartenbau.
Neori hat es also irgendwie geschafft, an eine Fahrlizenz zu kommen.
Sein Auto ist, wie sollte es anders sein, uralt, wacklig, und es stößt beim Anfahren eine gräßliche Rauchwolke aus. Innen ist alles sauber geputzt, wenn auch die Sitze schwarz und starr vor eingealtertem Schmutz sind, die Verkleidungen weitgehend fehlen.
Wir freunden uns an mit Neori, er spricht leidlich Englisch, eine
Ausnahme unter den Einheimischen, obwohl Englisch doch Staatssprache ist (weshalb das so ist – ich komme später darauf zurück). Es kommt so weit, dass Neori abends, ehe er heim in sein weit entferntes Urwalddorf fährt, noch bei uns vorbeischaut, wir sitzen dann auf der Treppe vor dem Haus draußen vertraut beisammen und unterhalten uns, während die Nacht sinkt, über Gott und die Welt.
Einmal erzählen wir ihm vom Schnee bei uns daheim, und dass bald
Winter sein wird und alles von Schnee bedeckt, da hält er sich bloß die Hand vor den Mund und kichert: So leicht laß ich mich von euch doch nicht auf den Arm nehmen, will er uns bedeuten.
Eines Sonntags nimmt er uns dann in die Kirche in Wajevo mit, das ist
weit zu fahren. Die Kirche steht am Hügel oben, man kann sie von der Küste, vom Meer draußen sehen. In der Kirche sitzt das Volk auf dem Boden, so setzen wir uns auch. Die Leute rücken ein bißchen von uns ab, Fremde kommen selten her. Zu jeder Station der wie bei uns daheim ablaufenden christlichen Messe wird gesungen, der Gesang erfüllt die Kirche. – Wie hat es euch gefallen, will Neori nachher wissen. Gut, sagen wir, sehr gut. Wahrscheinlich spürt Neori, dass uns die Gesänge nicht bloß gefallen, sondern ergriffen, seltsam ergriffen haben, und so, als würde ihm das im Moment jetzt beikommen, lädt er uns in sein Dorf ein, zu sich nach Hause: Wann? Morgen! Ich hole euch ab.
Das Haus Neoris steht nicht im Dorf, nein, es steht, zusammen mit ein
paar anderen, mitten im Wald. Sie haben sich kleine Gärten ringsherum ausgehackt, wo sie ihren Bedarf anbauen. Die Frau Neoris begrüßt uns, führt uns herein. Fast keine Möbel, wie überall hier, ein paar vergilbte Fotos aus einer Zeitung – Filmstars und ähnliches – hat irgendwer einfach an die Holzwand der Hütte geklebt.
Im Licht einer Petroleumlampe sitzen wir mit Neori um eine bunt
gemusterte Plastiktischdecke herum auf dem Boden: Die Frau und ihre beiden Töchter werden das Essen servieren. Es gibt auch einen Sohn. Er geht zur Schule. Elementarschule. – Es kostet viel Geld, sagt Neori. Was? Die Elementarschule kostet Geld? Natürlich, sagt Neori ernst und ohne eine Spur von Protest oder Anklage in der Stimme. Deshalb kann auch nur unser Sohn zur Schule gehen, die Mädchen nicht. Ich verdiene zu wenig, wir haben kein Geld.
Während des Essens erzählt Neori, dass sie ständig in Furcht hier leben.
Es gibt keine Polizei, aber viele Diebe und Räuber. Alles wird gestohlen, klagt er.
Dann schaut er uns plötzlich an und fragt uns, ob wir nicht eine seiner
Töchter, die kleinere wird um die vierzehn sein, die andere vielleicht ein wenig
älter, ob wir die Ältere nicht vielleicht mitnehmen könnten, wenn wir abreisen? Nehmt sie mit! – Das Mädchen sitzt da, die Augen niedergeschlagen. – Ja, wie denn? Was soll sie denn bei uns, so weit fort von daheim? Was auch immer! Es wird besser sein, als alles, was sie hier erwartet – ohne Schule, ohne Geld, ohne jede Aussicht.
Es ist stockfinster jetzt, wir steigen den Pfad zur Straße hinunter, wo
Neoris Auto steht. Er wird uns noch heimfahren.
Sie werden jetzt vielleicht sagen: Wie oft hab’ ich das nicht in einer dieser
TV-Dokumentationen, in einem dieser Features im Radio über ferne und fremde Länder schon gesehen oder gehört! – Ich kann Ihnen versichern: Es ist etwas anderes, wenn man tatsächlich in solche Zustände gerät.
Wie gut erinnere ich mich an die Reden meiner Großmutter, die so gern
eine Lehre gemacht hätte! Scheiderin wäre sie gern geworden. Doch es hat nicht gereicht: Sie ist als Hilfsarbeiterin gestorben. Lange her sind solche Zustände auch bei uns nicht. Wir sollten uns das vor Augen halten. Wir müssen die Wege zur Bildung offen halten – für alle – müssen die Möglichkeiten zur Bildung hochhalten: Bildung ist etwas Kostbares, wie das Licht, das wir so gedankenlos und selbstverständlich jeden Abend in unseren Wohnungen anknipsen.
Es gibt auf der Welt noch immer viel zu viele Menschen, die keinerlei
Zugang zu Bildung oder Ausbildung haben. Anderseits erleben wir hier bei uns, in Österreich, einen schleichenden Rückbau der Studienfreiheit, die Verschleppung der längst fälligen und immer wieder angekündigten Schulreform – und dazu ein öffentlich-rechtliches Fernsehen, ja, es muß gesagt sein, das, ganz im Widerspruch zu Informationspflicht und Bildungsauftrag, sich den Abstieg ins Tiefland zeitgeistiger Dumpfheit programmmatisch vorgenommen zu haben scheint.
Trachoma ist, wie schon gesagt, eine sehr ansteckende Krankheit. Und
wenn man nichts dagegen tut, wird man blind.
Ich danke Ihnen und freue mich auf die Beiträge der Preisträger!
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