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Geschichte der Psychopharmaka
In den fünfziger Jahren kamen die ersten
chemisch entwickelten Psychopharmaka in
psychiatrischen Kliniken zum Einsatz, zunächst in
ihren "Entdeckerländern" Frankreich und der
Schweiz. In Frankreich wurde das
Chlorpromazin entwickelt, das man 1953 in
Deutschland unter dem Namen "Megaphen"
einführte, vorerst nur zur Herstellung eines
"künstlichen Winterschlafes" und zur Verstärkung
von Narkosemitteln, dann aber schon bald zur
Behandlung von schizophrenen und manischen
Patienten. Megaphen war damit der erste Vertreter
der chemisch synthetisierten ("synthetischen")
Psychopharmaka im allgemeinen und der Gruppe
der "Neuroleptika" im besonderen. Es hat heute
nur noch historische Bedeutung und wird wegen
seiner unerwünschten Nebenwirkungen als
Medikament nicht mehr eingesetzt, weil es inzwi-
schen bessere gibt. Damals bedeutete die
Verwendung dieser Substanz in der Psychiatrie
jedoch eine Revolution!
1957 wurde in der Schweiz die antidepressive
Wirkung von Imipramin entdeckt, das als
Tofranil noch heute in der Behandlung von
Depressionen Verwendung findet. Es dauerte verständlicherweise einige Zeit, bis diese Me-dikamente Einzug in alle psychiatrischen Krankenhäuser fanden. So habe ich 1961, als ich mein erstes Pflegepraktikum für das Medi-zinstudium in einer psychiatrischen Anstalt absolvierte, noch gerade eine Psychiatrie erlebt,
wie wir sie heute, 40 Jahre nach der Einführung
der Psychopharmaka, nicht mehr kennen. Extrem
auffällige Verhaltensweisen habe ich in dieser
"Übergangsphase" zur Ära der Psychopharmaka-
Psychiatrie noch selbst erleben können, z.B.
stundenlanges Stehen in bizarrer Haltung auf
einem Fleck, massive sexuelle Enthemmung
(permanente Masturbation vor den Mitpatienten),
autoaggressive Akte (Selbstverstümmelung) und
fremdaggressive Durchbrüche (der Versuch, den
Pfleger zu erwürgen) sowie Erregungszustände, in
denen der Kranke alle Fensterscheiben seines
Zimmers zerschlug, den ganzen Körper mit Kot
einschmierte und sich schließlich unter der
Bettdecke verkroch.
Ich berichte hier über meine frühen Erfahrungen
mit der Psychiatrie, um verständlich zu machen,
wie sehr sich das Bild der psychiatrischen
Anstalten, Kliniken und Abteilungen seit der
Einführung der Psychopharmaka zum Positiven
verändert hat. Ich betone das so ausdrücklich,
weil es immer noch oder immer wieder kritische
Stimmen gibt, die vor den negativen Effekten der
Psychopharmaka warnen, so als gebe es in der
Psychiatrie eine Alternative zu diesen Medikamen-
ten.
Euphorisieren Psychopharmaka?
"Künstliche Freuden" hieß das Buch eines
amerikanischen Suchtforschers, Joel Fort (#),
das ich 1970 erstmals durcharbeitete, als ich -
inzwischen wissenschaftlicher Assistent an einer
psychiatrischen Universitätsklinik und Stationsarzt einer geschlossenen Männerstation - mit einem ganz anderen Problem konfrontiert war, nämlich dem Beginn der Drogenwelle in der Bundesrepublik. Wir waren damals noch sehr unerfahren auf diesem Gebiet, und so landeten die jungen Konsumenten harter Drogen auf den "normalen" geschlossenen Psychiatrie-Stationen, auf denen wir Schizophrene, Depressive, Epileptiker und Alkoholiker gemeinsam zu be-handeln versuchten (#). "Künstliche Freuden" ist also ein Ausdruck, der im Zusammenhang mit "bewußtseinsverändernden Drogen" gebraucht wurde, weil alle
Psychodrogen in erster Linie eines gemeinsam
haben: die Erzeugung von "Euphorie". Eu-phorie
bedeutet - wörtlich übersetzt - "leicht zu tragen,
geduldig" (#). Wir meinen mit Euphorie aber kein
"normales" sorgloses oder fröhliches Gestimmtsein
aus einer guten Laune und angenehmen
Gesellschaft heraus, sondern eine bereits inad-
äquate Stimmungssteigerung
, die eigentlich
nicht paßt zu der Situation des Betreffenden, die
durch Krankheit, Elend oder Bedrohung geprägt
ist. Es wird deutlich, daß die gehobene Stimmung
nicht aus dem eigentlichen "Kern" dieses Men-
schen kommt, daß sie nicht "echt", sondern
"gekünstelt" ist: "künstliches Glück" eben!
In eine Euphorie kann sich ein Mensch einerseits
willentlich versetzen. Sie kann andererseits
bedingt sein durch eine Krankheit des Gehirns,
z.B. eine Stirnhirnatrophie, für die eine
läppisch-euphorische Stimmungslage charakteristisch ist ("Stirnhirnatrophie" bedeutet einen Untergang von Zellen bevorzugt im Stirnhirnbereich, dessen Intaktheit gerade für die ethisch-moralischen Verhaltensweisen des Menschen eine Voraussetzung ist.) (#) Bei der Manie stellt die Euphorie eines der wesentlichen
Symptome dar ( s. S. ###). Am häufigsten aber
entstehen euphorische Zustände durch Drogen
(engl.: drugs), wobei mit Abstand an erster Stelle
der Alkohol genannt werden muß.
Alkohol, die meistgebrauchte Droge
Der Alkohol als gesellschaflich akzeptierte und
geförderte Droge ist ja eben deshalb so beliebt,
weil er euphorisch macht und Sorgen und Ärger
vergessen läßt ("Schütt' die Sorgen in ein
Gläschen Wein."). Das Problem aber ist die
"Suchtpotenz" dieser Droge mit der Folge, daß
wir ca. 2,5 Millionen Alkoholiker in der Bun-
desrepublik zählen, die wohl noch häufigeren Fälle
von "Alkoholmißbrauch" nicht mitgerechnet. Es
folgen dann, wenn man Medikamente zunächst
unberücksichtigt läßt und die "Nikotinsucht" wegen
ihrer Besonderheiten ausklammert, die
"Rauschgifte" im engeren Sinne, also Ha-
schisch und Marihuana (die "weichen Drogen"), LSD und LSD-ähnlich wirkende Drogen (chemisch synthetisiert) sowie die harten Drogen wie Morphium, Opium, Cocain und Heroin.
Neben Alkohol und den Drogen im engeren Sinne
werden noch die "Aufputschmittel"
(Psychostimulantien) zu den Psychodrogen ge-
rechnet. Das sind die sogenannten "Weckamine"
mit einer primär anregenden (stimulierenden),
sekundär aber auch euphorisierenden Wirkung,
wie z.B. Captagon, Pervitin und Tradon. Bevor
man ihre "Suchtpotenz", also ihre Fähigkeit
süchtig zu machen, erkannte, wurden sie oft als
"Appetitzügler" genommen oder in Examenssi-
tuationen eingesetzt, um mit ihrer stimulierenden
Wirkung die Nächte durcharbeiten zu können. Ihr
Einsatz zu diesen Zwecken ist höchst problema-
tisch und gefährlich, da sich sehr schnell eine
Sucht entwickeln kann. Auch die Provokation einer
"psychotischen Entgleisung" (das heißt, die Auslö-
sung einer Psychose) ist durch diese Mittel mög-
lich. Heute unterliegen sie dem Betäubungs-
mittelgesetz, um Mißbrauch zu verhindern.
Dennoch sind die Weckamine als Medikamente
anzusehen, im Unterschied zu den zuvor
genannten Drogen: Medikamente, die - wenn auch
selten und dann sehr vorsichtig - ärztlich ver-
ordnet
werden können, z.B. zur Behandlung einer
krankhaften Schlafneigung, der Narkolepsie.
Doch selbst bei dieser Indikation stellen die Psy-
chostimulantien erst die letzte Möglichkeit ("ultima
ratio") dar.
Machen Psychopharmaka süchtig?
Alle genannten "drugs" sollen "künstliches Glück"
erzeugen, bewußtseinserweiternd oder
bewußtseinsverändernd wirken, und sie sollen
euphorisieren. Hierin unterscheiden sich nun
Drogen grundsätzlich von den Psycho-
pharmaka, um die es in diesem Vortrag geht.
Das Ziel der auf die Psyche einwirkenden Medikamente ist die Besserung oder Behebung von Zuständen krankhafter Art, die Befreiung von Symptomen wie Angst, Depression, Unruhe, Wahn, Halluzinationen oder Schlaflosigkeit. Nicht angestrebt wird die Erzeugung von Euphorie im Sinne eines unnatürlich gesteigerten Wohlbefin-dens. Diese Gefahr besteht bei einigen Psycho-pharmaka, wie Sie noch hören werden, sehr wohl, bei anderen weniger oder gar nicht. So läßt sich beispielsweise die ausgeglichene Stim-mung eines psychisch Gesunden durch antidepressive Medikamente nicht verbessern, das heißt, die Antidepressiva euphorisieren nicht, sondern können lediglich eine depressiv gesenkte Stimmung normalisieren. Sie machen - wohl deshalb - auch nicht süchtig; eine Erfahrung, die wir dem depressiven Patienten, der dringend medikamentös behandelt werden sollte, immer und immer wieder versichern und überzeugend darlegen müssen. Wenn ein Patient von seiner Depressivität, seiner Unruhe, seinem Grübeln, seinen Ängsten und seinen Schlafstörungen durch das Medikament befreit wird, so kann er "reaktiv" darüber sehr glücklich sein (Goethe: "Niemand genießt wie der Genesende"). Das aber ist keine Euphorie, sondern eine normale Reaktion auf das bessere Befinden. Setzt dieser Patient das Medikament ab und treten die alten Symptome (Depressivität, Unruhe, Grübeln, Angst, gestörter Schlaf) danach wieder auf, dann ist das nicht, wie gelegentlich befürchtet wird, ein Hinweis darauf, daß er nun von dem Medikament "abhängig" ist, sondern das Wiederauftreten der Symptome zeigt lediglich, daß die depressive Phase noch nicht abgeklungen ist, das Antidepressivum also zu früh abgesetzt wurde. So zumindest würden wir es bei einer endogenen Depression sehen, die in erster Linie einer medikamentösen Therapie bedarf. Wenn es bei einer neurotischen Depression nach Absetzen der Medikamente zu einer Verschlechte-rung der Symptomatik kommt, würde dies darauf hinweisen, daß die psychotherapeutische Behandlung noch nicht ausreichend erfolgreich war. Mit Abhängigkeit oder Gewohnheitsbildung hat das nichts zu tun. Man muß unbedingt unterscheiden zwischen Symptomen der zugrundeliegenden Krankheit (z.B. der Depression) und den Symptomen, die nach einer Suchtentwicklung durch den Entzug entstehen. Das ist zugegebenermaßen manchmal nicht leicht. So werden etwa die klassischen Beruhigungsmittel, die sogenannten "Tranquilizer", bevorzugt bei Angst- und Unruhezuständen, wie auch bei Schlafstörungen eingesetzt. Sie wirken in der Regel recht prompt, machen aber auch schnell abhängig. Wenn diese Medikamente abgesetzt werden, vor allem wenn man dies abrupt tut, treten die Symptome, deret-wegen das Präparat genommen wurde (Angst, Unruhe, Schlaflosigkeit), oft in sogar verstärkter Form wieder auf. Es ist nun sehr schwierig zu erkennen, ob hier lediglich die alten Beschwerden wieder zum Vorschein kommen oder ob es sich
schon um eine Entzugssymptomatik handelt.
Je stärker die Beschwerden sind und je länger das
Präparat genommen wurde, umso
wahrscheinlicher ist die Annahme einer bereits
eingetretenen Gewohnheitsbildung oder Sucht.
Die Angst des Patienten vor Gewöhnung und
Sucht ist ja im Grunde etwas durchaus Positives.
Ich denke, gerade sie schützt ihn am besten vor
dieser Gefahr. Etwas überspitzt ausgedrückt: Je
größer die Angst vor Abhängigkeit, um so geringer
die Gefahr! Das erlebe ich in der Praxis täglich:
Patienten, die große Angst vor der Einnahme
medizinisch notwendiger und hinsichtlich der Suchtentwicklung unproblematischer Medikamente haben, geben einem als Arzt die Gewißheit, daß gerade sie keine Sucht entwickeln würden. Denn Sucht entsteht nicht aus der Droge allein, sondern Sucht ist abhängig von drei Faktoren: Droge, Persönlichkeit und Umwelt. Persönlichkeit Umwelt

Die Droge bzw. das Medikament kann eine
starke oder gar keine "Suchtpotenz" besitzen. Die
typischen Herzmittel beispielsweise besitzen
keinerlei Suchtpotenz. Heroin hat dagegen eine
sehr hohe suchtfördernde Wirkung. Das heißt,
man muß davon ausgehen, daß der Konsum von
Heroin bei jedem Menschen (Persönlichkeit)
und in jeder Lebenssituation (Umwelt) letztlich
zur Sucht führt. Beim Alkohol, der auch ein hohes
Abhängigkeitspotential besitzt, liegen die Verhält-
nisse schon etwas anders:
Die meisten Menschen in unserem Kulturkreis
nehmen Alkohol in irgendeiner Form zu sich. Sie
trinken aus Genuß, aus Geselligkeit, zur
Erleichterung oder wegen irgendwelcher Konflikte;
aber nur wenige von ihnen (allerdings immer noch
zu viele!) werden süchtig im Sinne einer
eigentlichen Alkoholkrankheit. Das bedeutet in
bezug auf unser Schema, daß die Droge Alkohol
zwar eine Suchtpotenz besitzt, sich aber nur bei
Vorliegen bestimmter Persönlichkeitszüge oder -
störungen tatsächlich eine Sucht entwickelt.
Schließlich kann auch die soziale Situation (z.B.
Belastung durch Arbeitslosigkeit) verantwortlich
dafür sein, daß aus dem "Genußmittel" ein
"Suchtmittel" wird.
Ein selbstbewußter, "ich-starker" Mensch ist durch
den Verlust seines Arbeitsplatzes weniger gefähr-
det, in den Alkoholmißbrauch abzurutschen, als
jemand mit einer neurotischen
Identifikationsstörung, der zu Abhängigkeiten und
Minderwertigkeitsgefühlen neigt. Das heißt, Per-sönlichkeitsstruktur und soziale Situation, die "psycho-sozialen Faktoren;, kommen der
vorhandenen Suchtpotenz der Droge entgegen,
und so kann eine Suchtkrankheit entstehen.
Wenn ein Medikament kein Abhängigkeitspotential
besitzt (wie es z.B. für die Antidepressiva gilt),
fällt die Gefahr vonseiten des Medikamentes weg.
Ist der Patient kritisch eingestellt gegenüber Ab-
hängigkeiten und Medikamentenkonsum
schlechthin, dann verringert sich die Wahr-
scheinlichkeit einer Suchtentwicklung selbst bei
Medikamenten mit Suchtpotenz. Ich kenne Pati-
enten, die sogar mit den suchtgefährdenden
Beruhigungsmitteln der Valium-Abkömmlinge
umgehen können, ohne abhängig zu werden.
Systematik der Psychopharmaka
Ich habe bereits mehrere Psychopharmaka
erwähnt und möchte nun zum besseren
Verständnis eine Übersicht bringen, welche
Medikamente dazu zählen und wie man ihre große
Vielzahl in eine Ordnung bringen kann. Diese läßt
sich relativ einfach herstellen, indem man drei
große Gruppen unterscheidet:
Weitere Gruppen, die zu den Psychopharmaka
gezählt werden, wie z.B. die anregenden
"Psychostimulantien" und die den
Hirnstoffwechsel unterstützenden "Neurotropika",
will ich hier nicht weiter berücksichtigen.
Sie ersehen aus dem Schema, daß die Bezeichnung "Psychopharmaka" ein Oberbegriff ist, zu dem drei verschiedene Medikamentengruppen gehören, nämlich die Tranquilizer (Beruhigungsmittel), die
Neuroleptika (antipsychotischen Wirkstoffe)
und die Antidepressiva oder Thymoleptika
(stimmungsaufhellenden Medikamente). Es ergibt
so gesehen also keinen Sinn, die Psychopharmaka
grundsätzlich abzulehnen oder gar zu verteufeln, wie es z.B. der "Spiegel" bereits 1980 mit einer Titelgeschichte tat ("Pillen in der Psychiatrie. Der sanfte Mord") und damit zur Verunsicherung unserer Patienten beitrug (#). Der Mainzer Psychiatrieprofessor O. Benkert beklagt in dem Vorwort zu seinem 1996 erneut aufgelegten Lehrbuch der "Psychiatrischen Pharmakotherapie" die nach wie vor gegebene Ablehnung der Psychopharmaka in breiten Kreisen der Bevölkerung und in den Medien. Den Gründen dafür wurde sogar in einer wissenschaftlichen Untersuchung nachgegangen ("Mainzer Studie") (#). Er schreibt: Es wird großer Anstrengungen bedürfen, um die verständlichen rationalen Ängste über psychische Erkrankungen und über Psychopharmaka weiter zu analysieren und sie einer Lösung näherzubringen. Wie wir den irrationalen Ängst in der Bevölkerung und ihrer Einstellung zu Psychopharmaka entge-gentreten sollen, bleibt allerdings noch völlig un-klar." (#) Wegen solcher "Widerstände" gegen die Behandlung mit Wirkstoffen, die ja unser seelisches Befinden nicht nur verändern (was die Angst ausmacht!), sondern bessern sollen, werden an der Tannenwaldklinik regelmäßig Patientenvorträge wie dieser gehalten. Ängste und Vorurteile mit sachlicher Argumentation abzubauen ist ja nicht nur Informationsver-mittlung, sondern stellt grundsätzlich eine der Voraussetzungen beim Einsatz von Psychopharmaka dar, weil allein ein derartiger Widerstand den möglichen Therapieerfolg in vielfältiger Weise blockieren kann. Da sich dieser Vortrag nicht an Fachleute wendet, sondern an Zuhörer oder Leser ohne pharmakologische Kenntnisse, möchte ich chemische Bezeichnungen weitgehend vermeiden. Dies bedeutet, daß ich nicht die chemischen Wirkstoffe anführe, sondern auf die im Handel befindlichen Präparatenamen der Fertigarzneimittel zurückgreife, die allerdings sehr verwirrend sind. Denn die verschiedenen pharmazeutischen Unternehmen stellen vielfach dasselbe Medikament her, geben ihm aber jeweils einen eigenen Namen. Das kann den Laien verun-sichern. Dennoch habe ich bei meinen Vorträgen die Erfahrung gemacht, daß es für den Patienten aufschlußreich ist, wenn er "sein" Medikament in einer bestimmten Stoffgruppe "wiederfindet". Aus Gründen der Übersichtlichkeit konnte ich nicht alle Präparate auffführen, die es auf dem Markt gibt. Es handelt sich also um eine subjektive Auswahl der mir persönlich geläufigsten Psychopharmaka ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sagt auch nichts aus über Qualität, Wirksamkeit oder
Verträglichkeit der erwähnten oder nicht
erwähnten Arzneimittel.
Die drei Gruppen von Psychopharmaka, nämlich
die Tranquilizer, die Neuroleptika und die
Antidepressiva, haben sehr unterschiedliche
Einsatzgebiete ("Indikationen") und müssen
hinsichtlich ihrer erwünschten Wirksamkeit und
unerwünschten Nebenwirkungen sehr differenziert
beurteilt werden, so daß auch deshalb Pauschal-
Urteile sachlich nicht zu vertreten sind. Wir wollen
uns nun mit jeder Untergruppe einzeln beschäfti-
gen und beginnen mit den als besonders proble-
matisch einzustufenden Beruhigungsmitteln.
Die Tranquilizer
Die typischen Vertreter der Tranquilizer sind die
sogenannten "Benzodiazepine", deren erstes
Präparat 1960 als Librium auf den Markt kam,
dem bald das Valium folgte, welches in den 70er
Jahren zum meistverordneten Medikament
überhaupt wurde. Valium und seine chemischen
Abkömmlinge, die heute etwas salopp auch
"Benzos" genannt werden, zeichnen sich durch
eine sehr gute Verträglichkeit sowie stark beruhi-
gende, angstlösende und muskelentspannende
Wirkung aus. Sie waren darin allen anderen
Psychopharmaka überlegen und lösten Substanzen
mit starken und schädlichen Nebenwirkungen ab,
wie z.B. die als Schlafmittel bis dahin verwendeten
Barbiturate. Das erklärt den Siegeszug der
"Benzos" auf der ganzen Welt.
Ihre Verordnung war problemlos und ihre Wirkung
so überzeugend, daß sie zunehmend kritiklos
verschrieben wurden. Erst allmählich lernte man,
daß mit ihnen eine erhebliche Suchtgefahr
verbunden ist. Deshalb werden sie heute wie-
derum von manchen Menschen extrem negativ
gesehen, wobei vergessen wird, daß sie bei be-
stimmten Störungen (starke Unruhe, Angst,
schwere Schlafstörungen) nach wie vor indiziert
und unverzichtbar sind. Ihre Verordnung muß aber
kritisch, in möglichst niedriger Dosierung und
zeitlich begrenzt erfolgen, maximal drei bis sechs
Monate. Spätestens nach Ablauf dieser Zeit muß
man den Tranquilizer ausschleichend (nicht
abrupt) absetzen.
Es ist von der pharmazeutischen Industrie immer
wieder versucht worden, das Benzodiazepin-
Molekül chemisch so zu verändern, daß entweder
die Schlafförderung besonders ausgeprägt ist
oder umgekehrt diese müdemachende Wirkung
(die "Sedierung") ganz in den Hintergrund tritt,
damit die Substanz als sogenannter
"Tagestranquilizer" eingesetzt werden kann.
Infolgedessen ist eine große Zahl von Präparaten
durch leichte Abwandlungen der chemischen
Struktur entstanden, deren bekannteste Vertreter
ich nachfolgend zusammengestellt habe (Angabe
der Handelsnamen in alphabetischer Reihenfolge
ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
Mittellang wirksame Benzodiazepine (6-
24 Stdn):
Adumbran, Bromazanil, Gityl, Lexotanil, Noctazepam, Normoc, Oxazepam, Praxiten, Sigacalm, Tafil, Talis, Tavor, Tolid, Trecalmo Langwirksame Benzodiazepine (> 24
Stdn):
Demetrin, Diazepam, Frisium, Librium, Multum, Tranquase, Tranxilium, Valium Trotz Suchtgefahr unentbehrlich! Zusammenfassend möchte ich noch einmal betonen: Die heute so umstrittenen Tranquilizer wurden zu einem Problem und fanden ihre Grenzen paradoxerweise auf Grund ihrer hervor-ragenden Wirksamkeit und sehr guten Verträg- lichkeit. Es waren also ihre Vorzüge, die zu einer kritiklosen und unverantwortlichen Ausweitung der Verordnung von Valium und seinen Derivaten geführt haben (130 Millionen DM Jahresumsatz in Deutschland!). Nach wie vor aber kann und sollte man auf diese Substanzgruppe nicht verzichten. In manchen Fällen können sie lebensrettend wirken (z.B. bei akuter Suizidalität oder schweren Erregungszuständen, übrigens auch bei organi-schen Notfällen, wie dem Herzinfarkt). Für die Behandlung von schizophrenen Psychosen und Depressionen sind sie nicht geeignet, höchstens vorübergehend begleitend. Ihre Domäne sind Angst- und Unruhezustände sowie
Schlafstörungen, die man - zeitlich begrenzt -
mit ihrer Hilfe gut beeinflussen kann. Das Behand-lungsziel muß aber sein, sie nach Beseitigung der eigentlichen Krankheitsursache (z.B. durch Psychotherapie) möglichst bald wieder abzusetzen. Nicht ganz selten beruhigt es den Patienten schon, wenn er weiß, womit er sich im Notfall helfen kann. Er hat dann meist "zur Sicherheit" eine Tablette "bei sich", die er aber nur selten wirklich einnehmen muß. Das bedeutet zwar eine gewisse seelische Abhängigkeit (von dieser Absicherung),
die aber eher harmlos ist und toleriert werden
kann.
Die Neuroleptika
Kommen wir zur zweiten Gruppe der
Psychopharmaka: Die Neuroleptika werden auch
als "Antipsychotika" bezeichnet, weil ihre
wichtigste erwünschte Wirkung eine "antipsy-
chotische" ist, d.h. diese Substanzen sind in der Lage, psychotische, insbesondere schizophrene Symptome wie Sinnestäuschungen (Halluzinationen), Wahnerleben und Denkstö-rungen positiv zu beeinflussen. Daneben besitzen sie auch eine dämpfende Wirkung auf psychomotorische Erregtheit, aggressives Verhalten und affektive Spannungen (z.B. ängstli-che Gespanntheit bei einem akut schizophrenen Patienten). Die Neuroleptika sind es, welche die schon anfangs erwähnte grundlegende Veränderung der Situation des psychiatrischen Patienten bewirkt haben. Mit ihrer Entwicklung war es erst- mals möglich, die schweren Symptome
schizophrener und manischer Patienten so zu bes-
sern, daß eine Eingliederung des Kranken in
Klinik, Familie oder gar Beruf möglich wurde. Die
Bedeutung dieses "epochalen Wandels" in der
Psychiatrie kann nicht überschätzt werden. Im
Laufe der letzten 40 Jahre sind zwar weitere
neuroleptische Substanzen entwickelt worden, das
Behandlungsprinzip der akuten und chronischen
Psychosen mit Hilfe der Neuroleptika hat sich in
dieser Zeit hingegen nicht verändert.
Extrapyramidale Nebenwirkungen
Gleichwohl werden auch die Neuroleptika nicht nur
gelobt. Das hängt mit ihren unerwünschten
Nebenwirkungen
zusammen, die bei einer
Neuroleptika-Behandlung mehr oder weniger in
Kauf genommen werden müssen. Fast alle diese
Substanzen gehen nämlich mit sog.
"extrapyramidal-motorischen
Symptomen" einher. Was heißt das? Die
Extrapyramidal-Motorik ist unser unwillkürlicher
Bewegungsausdruck, wie er sich in Mimik, Gestik,
Schrittgröße und Mitbewegung der Arme beim Ge-
hen zeigt, der also etwas sehr Persönliches
darstellt.
Diese extrapyramidale Motorik wird durch
Neuroleptika in der Regel stark beeinträchtigt im
Sinne einer deutlichen Verminderung der
erwähnten motorischen Funktionen. Es mag Ihnen
selbst aufgefallen sein, wenn Sie einmal eine
psychiatrische Klinik besucht haben sollten, daß
viele Patienten merkwürdig starr und gebunden in
ihren Bewegungen sind. Das Bild erinnert an die Parkinsonsche Krankheit (die hirnorganisch
bedingte "Schüttellähmung"), denn auch Zittern,
"Salbengesicht" und vermehrter Speichelfluß
kommen beim "neuroleptischen Parkinson-
Syndrom" vor, wie man den Komplex von
Nebenwirkungen deshalb auch nennt. Diese Einen-
gung der freien Bewegung auf Grund der
Neuroleptika ist von Kritikern als "chemische
Zwangsjacke" angeprangert worden, welche die "mechanische Zwangsjacke" für unruhige Patienten früherer Zeiten lediglich ersetzt habe. Die Störungen des neuroleptischen Parkinson-Syn-droms bedeuten für den Kranken in der Tat eine erhebliche Belästigung und Beeinträchtigung,
allerdings werden sie als Preis für die Besserung
der wesentlich schlimmeren psychotischen Sym-
ptome vom Patienten meist toleriert. Einige
Beschwerden, wie z.B. das akute "Zungen-
Schlund-Syndrom
" mit krampfartigen
Verdrehungen von Zunge und Halsmukulatur und
auch die sehr lästige "Sitz- und Stehunruhe"
(Akathisie) können medikamentös (mit dem
Präparat Akineton z.B.) gelindert werden. Nor-
malerweise verschwinden alle diese Ne-
benwirkungen nach dem Absetzen des Neurolepti-
kums.
Leider gibt es aber auch die sog.
"Spätdyskinesien" nach langer, meist
hochdosierter Neuroleptika-Therapie, und dieses
Syndrom, das mit unwillkürlichen stereotypen
Bewegungen vor allem im Mund- und
Gesichtsbereich einhergeht, bildet sich nach
Absetzen der Medikamente nicht wieder zurück
und ist darüberhinaus schwierig zu behandeln. -
Schließlich seien Blutbildveränderungen als
mögliche Komplikation erwähnt, die es erforderlich
macht, daß der Arzt insbesondere die Zahl der
weißen Blutkörperchen (Leukozyten) regelmäßig in
größeren Zeitabständen kontrolliert.
Arzt-Patient-Beziehung wichtig!
Es wird deutlich, denke ich, daß die Neuroleptika
zwar segensreiche, aber durchaus keine
harmlosen
Substanzen sind. Es muß somit im
Einzelfall vom Arzt und Patienten eine Abwägung
zwischen Einsatz oder Nicht-Einsatz stattfinden.
Das ist in der akuten Psychose kaum eine Frage.
Aber es gibt "Langzeit- oder Depot-Neurolep-
tika
", die auch nach Abklingen der akuten
Psychose eingenommen oder gespritzt werden, um
neuen akuten Schüben vorzubeugen (Rezidiv-
Prophylaxe
, s. S. ###).
So kann nur eine vertrauensvolle Arzt-Patient-
Beziehung
zu einer befriedigenden Therapie
führen, bei der es vor allem auch auf die
zuverlässige Mitarbeit des Patienten ankommt
("Compliance"). Diese ist umso besser, je mehr
es dem Arzt gelingt, Vertrauen in seine Behand-
lung zu schaffen und damit eine partnerschaftliche
Zusammenarbeit zwischen Fachmann und
Betroffenem aufzubauen.
Bei den Neuroleptika wird zwischen stark
wirksamen ("hochpotenten") und schwach
wirksamen ("niederpotenten") Substanzen unterschieden. Die Behandlung der akuten Psychose erfolgt in der Regel hochdosiert mit hochpotenten Neuroleptika. Die
bekanntesten Präparate für diesen Zweck sind
beispielsweise:
Ciatyl, Dapotum, Decentan, Lyogen, Fluanxol, Glianimon, Haloperidol, Haldol, Imap, Impromen, Orap Einige dieser hochpotenten Neuroleptika liegen in
Depot-Form mit Langzeitwirkung vor und eignen
sich somit für eine Langzeittherapie (s. S. ###).
Die niederpotenten Neuroleptika werden
eher als Begleitmedikation eingesetzt,
insbesondere zur Beruhigung und zur
Schlafförderung, z.B.
Da die Neuroleptika nicht süchtig machen, aber
ähnlich wie die Tranquilizer beruhigend und
angstlösend wirken, werden immer wieder
Versuche unternommen, statt des suchtgefähr-
denden Tranquilizers ein niederpotentes Neu-
roleptikum zu geben (z.B. Atosil, Melleril) oder ein
hochpotentes Neuroleptikum in niedriger Dosis
(z.B. Imap-1,5-Injektionen einmal wöchentlich).
Gerade auf diese zuletzt angeführte Behandlung
"schwören" viele Patienten. Die wöchentliche
Imap-Spritze im Sinne eines
"Wochentranquilizers" macht zwar nicht
süchtig. Es bleibt aber das Problem der
neuroleptischen Nebenwirkungen (z.B.
extrapyramidale Störungen, Spätdyskinesien), die
auch in niedrigen (!) Dosierungen auftreten
können. Für die schwach potenten Präparate ist
diese Gefahr geringer, insbesondere für Atosil und
Melleril.
Zusammenfassend ist festzustellen, daß die
Gruppe der Neuroleptika hoch differenzierte und
damit auch "komplizierte" Medikamente umfaßt,
deren Handhabung praktische Erfahrung und
theoretisches Wissen erfordert. Die Führung eines
Patienten, der unter einer chronischen Psychose
leidet, und seine medikamentöse Einstellung auf
ein Neuroleptikum, das ihn vor akuten Schüben
schützt und seine Integration in ein weitgehend
normales Leben ermöglicht, ist eine gleichermaßen
schwierige wie dankbare Aufgabe für Haus- und
Nervenarzt.
Medikamentöse Langzeitbehandlung
Diese Feststellungen haben natürlich eine
besondere Bedeutung für die Verläufe
schizophrener Erkrankungen, bei denen über viele
Jahre, ja manchmal lebenslang mit Neuroleptika
behandelt werden muß, um Rückfälle zu
vermeiden. Das wird in der Psychiatrie als
"Rezidivprophylaxe" bezeichnet. Wie bei vielen
seelischen Krankheiten handelt es sich bei der
Schizophrenie ja um eine chronische, nach wir vor
letztlich nicht ursächlich behandelbare, das heißt,
heilbare Krankheit. Ein hoher Prozentsatz
schizophrener Psychosen weist einen Krank-
heitsverlauf mit immer wieder ("rezidivierend")
auftretenden Schüben auf. Nach Ausbruch der
Krankheit liegt die "Rezidivgefahr" bei immerhin
bis zu 80 Prozent!
Wie gesagt, wir können die Schizophrenie nicht
heilen. Aber immerhin lassen sich die drohenden
Rezidive (die erneuten Schübe) durch eine
prophyklaktische Langzeitbehandlung mit niedrig-
dosierten Neuroleptika weitgehend verhindern. Es
ist in vielen wissenschaftlichen Untersuchungen
nachgewiesen worden, daß das Risiko, innerhalb
eines Jahres erneut zu erkranken, deutlich erhöht
ist, wenn nach der akuten schizophrenen Episode
die Neuroleptika abgesetzt werden und eine
medikamentöse Rezidivprophylaxe nicht
durchgeführt wird.
Für die so wichtige neuroleptische
Rezidivprophylaxe sind Substanzen entwickelt
worden, die eine Langzeitwirkung aufweisen (die
sogenannten "Depot-Neuroleptika"). Das bedeu-
tet: Der Patient braucht im günstigsten Fall nur
alle drei bis vier Wochen eine Spritze vom Arzt.
Für die Sicherheit dieser medikamentösen
Prophylaxe und für die Lebensqualität des
schizophrenen Patienten ist das natürlich von
ungemein großer Bedeutung, insbesondere dann,
wenn das Medikament gut vertragen wird und die
Nebenwirkungen sich in Grenzen halten. Dann
kann der schizophrene Patient ein fast "normales"
Leben führen.
Bewährte Neuroleptika für die Langzeitbehandlung
sind z.B.:
Dapotum D, Decentan-Depot, Fluanxol-Depot, Fluphenazin-neuraxpharm, Haldol-Decanoat, Imap, Lyogen-Depot, Orap Wie gut eine solche medikamentöse Rezidivprophylaxe wirklich greift, ist außer von dem Medikament abhängig von vielen anderen Faktoren, z.B. von der Einstellung des Patienten zu dieser Therapie (also seiner "Compliance"), von seinem sozialen Umfeld (z.B. von seiner Integration in die Familie) und von dem Einsatz weiterer Behandlungsformen wie der Soziotherapie (z.B. Arbeitstherapie, Tages- oder Nachtklinik, An-gehörigenarbeit) und begleitender (stützender) Psychotherapie (z.B. verhaltenstherapeutische Trainingsprogramme zu sozialen Fähigkeiten, etwa typischen Alltagssituationen, wie dem Umgang mit "gesunden" Arbeitskollegen). Die Antidepressiva Bei der Depressionsbehandlung sind grundsätzlich zwei Aspekte zu berücksichtigen: die Ursache und der Schweregrad der vorliegenden
Depression. Ist der depressive Symptomen-
Komplex Folge einer akuten oder chronischen
Belastung, liegt also eine reaktive Depression
vor? Ist das Krankheitsbild eher im Rahmen einer
Neurose zu sehen, handelt es sich somit um eine
neurotische Depression? Oder muß man Veranlagung und biochemische Prozesse im Gehirn annehmen und eine endogene Depression diagnostizieren? Diese Fragen entsprechen einer "Differentialdiagnose" der Depression, deren Gesichtspunkte ich hier nicht ausführen möchte;
ich kann aber verweisen auf das Kapitel über
"Wesen und Formen der Depression" ab Seite
###.
Die diagnostische Einordnung einer Depression als
reaktiv, neurotisch oder endogen hat natürlich
Konsequenzen für ihre Therapie. Die beiden
"psychogenen" (also seelisch verursachten)
Formen werden schwerpunktmäßig
psychotherapeutisch behandelt, während die
"Psychopharmakotherapie", die uns hier ja
interessiert, vor allem bei den endogenen
Depressionen eine Rolle spielt.
Die Krankheitsursache ist für die Frage der
Therapieform indessen nur der eine
Gesichtspunkt; auch berücksichtigt werden muß
der Schweregrad der Depression. So wird der
Arzt bei den psychogenen Depressionen antide-
pressive Medikamente dann einsetzen, wenn der
Ausprägungsgrad der Symptomatik es erfordert.
Denn eine reaktive oder neurotische Depression
kann so gravierend sein, daß depressive Ver-
stimmungen, Angstzustände, Schlafstörungen oder
Suizidgefahr nicht allein durch Gespräche im
Rahmen der Psychotherapie zu beherrschen sind.
Welches Medikament ist das richtige?
Wenn er sich zu einer medikamentösen Therapie
entschließt, gilt es für den Arzt, weitere Fragen zu
klären, um unter den zahlreichen antidepressiv
wirkenden Pharmaka das am besten geeignete
auswählen zu können: Wie alt ist der Patient? Muß
er noch andere Medikamente einnehmen und
leidet er unter körperlichen Störungen, die es zu
berücksichtigen gilt (z.B. Herz- oder
Nierenkrankheiten, Durchblutungsstörungen im
Gehirn, Grüner Star am Auge)? Und schließlich:
Wie ist die Symptomatik der zu behandelnden
Depression? Stehen innere Unruhe, Ängstlichkeit,
Getriebensein und Schlafstörungen im
Vordergrund oder sind eher Antriebsminderung,
Schwung- und Lustlosigkeit sowie eine allgemeine
Apathie das Problem?
Vor dem Einsatz eines Antidepressivums sind diese
Fragen zu prüfen und zu beantworten; denn
unruhige, sogenannte "agitierte
Depressionen" müssen auf ein eher beruhi-
gendes ("sedierendes") Präparat eingestellt wer-
den, während die sogenannte "gehemmte
Depression" wegen ihres Antriebsdefizites einer
aktivierenden Substanz bedarf. Mit einem
sedierenden Antidepressivum würde man deren Antriebsschwäche noch verstärken. Die Gabe eines aktivierenden Thymoleptikums bei der "agitierten
Depression" könnte dagegen Unruhe und Getrie-
benheit des Patienten in gefährlicher Weise ver-
stärken (Suizidgefahr!).
Wenn es sich um einen älteren
Depressionspatienten handelt, der eine Reihe
körperlicher Risikofaktoren für die thymoleptische
Behandlung mitbringt, stellen die Nebenwirkungen
der "klassischen Antidepressiva" oft ein Problem
dar. Diese Präparate der "ersten Generation", die
sich vom Tofranil ableiten (siehe Seite ###),
werden auch "trizyklische Antidepressiva"
genannt, weil ihre chemische Struktur drei "Ringe"
aufweist. Sie besitzen alle eine sehr gute
antidepressive Wirkung, weisen aber auch relativ
starke unerwünschte Effekte ("Nebenwirkungen")
auf, vor allem im vegetativen Nervensystem, wie
Mundtrockenheit, Blutdrucksenkung, Herzrhyth-
musstörungen, Stuhlverstopfung und Beschwerden
beim Wasserlassen. Von jungen Menschen werden
diese vegetativen Begleiterscheinungen einer an-
tidepressiven Therapie meist besser toleriert als
von älteren. Bei Unverträglichkeiten muß der
Patient gegebenenfalls auf ein Präparat der "neuen
Generation" umgestellt werden, wobei die
Antidepressiva der "ersten Generation" auch nach
wie vor die Antidepressiva der "ersten Wahl" sind.
Vorteile der neuen Thymoleptika?
Damit Sie verstehen können, was bei den neuen
antidepressiven Substanzen "anders" ist, muß ich
kurz etwas zu dem biochemischen Wirkprinzip
der Thymoleptika sagen. Man weiß heute, daß bei
Depressionen ein Mangel an Überträgerstoffen
("Neurotransmittern") im Gehirn besteht. Un-
ser Nervensystem funktioniert dadurch, daß es
Milliarden von Verbindungsstellen zwischen den
Nervenzellen gibt. Die Verbindung zwischen zwei
Nervenzellen nennen wir "Synapse". Innerhalb
der Verbindungsstelle liegt ein winziger Zwischen-
raum, der "synaptische Spalt". Die
Informationsübertragung von der einen Zelle zur
anderen muß diesen Spalt überwinden. Das ge-
schieht chemisch durch die erwähnten Neu-
rotransmitter, von denen in unserem
Zusammenhang Noradrenalin und Serotonin
die wichtigsten sind.
Alle bisher entwickelten chemischen
Antidepressiva setzen an diesem Punkt an, das
heißt, sie beheben den Mangel an Noradrenalin
und/oder Serotonin und bewirken damit eine ver-
besserte Funktion des Nervensystems. Während
die klassischen Thymoleptika nun relativ un-
spezifisch
"wie eine Schrotflinte" für die
Vermehrung verschiedener Neurotransmitter
sorgen und somit auch unerwünschte Wirkungen
auslösen, garantieren die neuen Substanzen eine
gezielte Anreicherung ausschließlich von
Serotonin im synaptischen Spalt. Dadurch entfällt
eine ganze Reihe bisheriger Nebenwirkungen,
insbesondere Mundtrockenheit, Verstopfung,
Harnverhaltung und Herz-Kreislaufstörungen.
Beobachtet werden noch serotonin-abhängige
Nebenwirkungen wie Übelkeit und Schwindel, die
aber in normaler Dosierung eher selten auftreten.
Übrigens bleibt für alle chemischen Antidepressiva
die Notwendigkeit von gelegentlichen EKG- und
Blutbildkontrollen bestehen.
Nun aber eine Aufstellung der verschiedenen
Thymoleptika in alphabetischer Reihenholge.
Präparate der trizyklischen Antidepressiva
("erste Generation") sind z.B.
Anafranil, Aponal, Equilibrin, Insidon, Laroxyl, Noveril, Saroten, Sinquan, Stangyl, Tofranil. Nicht mehr trizyklisch, aber noch nicht "serotonin- spezifisch" sind Präparate der 2. Generation, wie Beispiele der "neuen Generation" mit Wirkung sind: Was ist ein MAO-Hemmer? Eine wichtige Gruppe der Antidepressiva konnte in die bisher erwähnten noch nicht eingeordnet werden. Es sind die mit der etwas merkwürdigen Bezeichnung "MAO-Hemmer". Diese rührt daher, daß sie die im Stoffwechsel der Nervenzellen wichtige "Mono-Amino-Oxydase" (MAO) hemmen. Das Enzym (ein chemischer Wirkstoff) Monoaminooxydase hat in unserem Gerhirn die Aufgabe, die aktivierten Botenstoffe (die schon erwähnten "Neurotransmitter") Noradrenalin und Serotonin "abzubauen" (s.S. ###). Das ist für die normale Funktion unserer Nervenzellen notwendig. Da bei der Depression jedoch ein Mangel der Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin vorliegt, hat man Medikamente eingesetzt, die den Abbau hemmen und damit für eine Anreicherung der mangelnden Neurotransmitter sorgen. Dies bewirken die deshalb so bezeichneten "MAO-Hemmer". Die "alten" MAO-Hemmer wurden schon in den 60er Jahren mit Erfolg eingesetzt. Es waren die Präparate Jatrosom und Parnate. Ihre Vorteile waren eine gute antidepressive und an-triebsfördernde Wirkung (sie machen also nicht müde!) und weniger Nebenwirkungen, wie wir sie bei den klassischen Antidepressiva in Kauf nehmen müssen (Mundtrockenheit, Obstipation u.a.). Die subjektive Verträglichkeit ist also recht gut. Das Problem dieser Substanzen ist jedoch eine Wechselwirkung mit Nahrungsmitteln, die den Eiweißkörper Tyramin enthalten, wie z.B. alter, reifer Käse, Fischhalbkonserven (Salzheringe), Hefeextrakte, Saubohnen, Salami, Schokolade u.a. Bei Genuß dieser Nahrungsmittel kann es zu lebensbedrohlichen Blutdruckkrisen kommen. Der Patient muß also sorgfältig eine "tyraminfreie Diät" einhalten. Auch stellt die Kombination mit anderen Psychopharmaka ein Problem dar. Aus diesen Gründen waren die "MAO-Hemmer" in der Be-handlung von Depressionen trotz der guten antidepressiven Wirkung eigentlich immer nur ein Mittel "zweiter Wahl". Seit wenigen Jahren steht nun ein moderner MAO-Hemmer zur Verfügung (Aurorix), bei dem die Probleme mit dem Tyramin keine Rolle mehr spielen (von Extremen wie der Käsesorte "Chedder" einmal abgesehen). Die Kombination mit anderen Antidepressiva bedarf allerdings weiterhin einer ärztlichen Überprüfung, insbesondere bei Kombination mit oder Übergang auf die seroton-spezifischen Antidepressiva. Pflanzliche Antidepressiva wirksam! Alle bisher genannten Präparate sind chemisch synthetisierte, also künstlich geschaffene Substanzen. Zunehmende Aufmerksamkeit erringen in letzter Zeit rein pflanzliche Produkte, die sog. "Phytopharmaka". Heilpflanzen wie
Baldrian, Melisse, Hopfen und Johanniskraut
hatten schon immer ihren Markt im Rahmen der
Naturheilkunde und deren Anhänger. Auch der
berühmte Arzt Paracelsus war ein großer
Verehrer von "Hypericum perforatum", dem
Johanniskraut (#). Das Problem war bisher der
Mangel an wissenschaftlich bewiesener
Wirksamkeit.
Für die Behandlung von Depressionen ist nun in
den letzten Jahren der durch entsprechend
wissenschaftliche Studien abgesicherte Nachweis
erbracht worden, daß der hochdosierte Johan-
niskrautextrakt
, welcher z.B. in dem Präparat
"Jarsin 300" vorliegt, eine gleich gute anti-
depressive Wirkung besitzt wie die klassischen
Antidepressiva, zumindest in niedriger Dosierung.
Verglichen wurde beispielsweise mit Tofranil als
der "Stammsubstanz" in einer Tagesdosis von 75
mg. (#) und mit Ludiomil als einem Vertreter der
"2. Generation". Der Vorteil des
Johanniskrautextraktes liegt in dem Fehlen
jeglicher Nebenwirkungen. Lediglich die Mög-
lichkeit einer übermäßigen Hautreaktion bei
starker Sonnenbestrahlung ist zu beachten.
Dadurch wird jetzt auch im Bereich der seelischen
Krankheiten der Einsatz pflanzlicher Medikamente
zu einer wissenschaftlich ernstzunehmenden
Alternative. Gerade bei den leichten und
mittelschweren Depressionen, die an einer Reha-
bilitationseinrichtung wie der Tannenwaldklinik
häufig vertreten sind, ergibt sich nicht selten die
Indikation für den Einsatz eines solchen Johannis-krautpräparates. Wann tritt die Wirkung ein? Hinweisen möchte ich noch auf zwei Eigenheiten von Antidepressiva, die für chemische und pflanzliche Präparate gleichermaßen gelten: Jedes Thymoleptikum spricht nur bei maximal 70 % der depressiven Patienten an. Dies bedeutet, daß einige Depressive nach einer ersten Behandlung mit einem bestimmten Antidepressivum eventuell auf ein anderes umgestellt werden müssen, da sich das erste Präparat bei diesem Patienten als nicht wirksam erwies. Hier wird ein schwerwiegendes Problem der Praxis deutlich: Die antidepressive Wirkung in Form von Stimmungsaufhellung, Antriebsverbesserung und Normalisierung der vegetativen Funktionen (Schlaf, Appetit, Sexualität) tritt nämlich erst nach zwei bis drei Wochen Behandlungsdauer ein. Arzt und Patient müssen also etwa vier Wochen abwarten, bis man sich zu einer Umstellung auf ein anderes Antidepressivum entschließt. Das Warten darauf, ob das Medikament anschlägt oder nicht, ist - das sollte man sich vergegenwärtigen - erheblich belastet durch die fortbestehende Symptomatik und zusätzlich durch die Nebenwirkungen des Medikamentes, die in der Regel gleich nach Einnahme auftreten. Diese Zeit-spanne bis zum Beginn der Besserung überwinden zu helfen ist eine der wichtigsten
Funktionen der Arzt-Patient-Beziehung und
auch wesentliche Aufgabe der Angehörigen.
Gelingt dies nicht, so bricht der Patient die Ein-
nahme des Medikamentes nicht ganz selten ab,
noch bevor es überhaupt wirken konnte.
Nicht zu früh absetzen!
Wenn es ungeachtet dieser möglichen
Schwierigkeiten schließlich zu einem
Wirkungseintritt gekommen ist, geht es dem
Patienten objektiv und subjektiv spürbar besser,
und auch die Nebenwirkungen gehen meist
zurück. Das ist in unseren Fallbeispielen, denke
ich, wiederholt deutlich geworden. Zu diesem
Zeitpunkt ergibt sich nun nochmals ein Problem,
wenn der Patient nämlich das Medikament zu früh
absetzt, weil es ihm ja jetzt wieder gut geht. Zu
frühes und zu schnelles Absetzen von
Antidepressiva bedeutet aber immer die Gefahr
eines Rückfalles in die akute Depression! Wann man die Dosis reduzieren bzw. das Antidepressivum ganz absetzen kann, sollte der Arzt entscheiden. Es bedarf ausgeprägten Fingerspitzengefühls und fachlicher Erfahrung, um beurteilen zu können, ob das Medikament noch erforderlich ist oder nicht. Eine Gewöhnungs- oder Suchtgefahr ist weder bei den chemischen, noch bei den pflanzlichen Thy-moleptika zu befürchten. Treten Symptome nach Absetzen des Medikamentes wieder auf, so ist das kein Hinweis auf eine inzwischen eingetretene Ab-hängigkeit. Darauf bin ich anfangs schon eingegangen. Rückfälle vermeiden! Abschließend glaube ich sagen zu können, daß Sie nun viele Informationen über "Nutzen und Risiko der Psychopharmaka" erhalten haben. Damit besitzen Sie die Chance einer sachlichen Einstellung zu dieser Gruppe von Medikamenten, die - wie alles was mit "psycho" zu tun hat - Vorurteilen und Mißverständnissen in besonderem Maße ausgesetzt ist. Sollten Sie oder Ihre Ange-hörigen mit Psychopharmaka behandelt werden, erlaubt Ihnen das erworbene Wissen, so hoffe ich, einen angstfreieren und angemesseneren Umgang mit etwas, das ja heilen und nicht schaden will. Vielen Dank für Ihre Aufmerk-samkeit!

Source: http://www.psycho-stegemann.de/k%FCnstliches%20gl%FCck.pdf

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Media Education Summit 2011 MERJ discussion strand http://www.merj.info Pre-conference stimulus: EPISTEMOLOGICAL DEVELOPMENT AND MEDIA EDUCATION Jenny Moon, Bournemouth University ([email protected]) Introduction In this paper I introduce ideas about the development of the learner’s understanding of the nature of knowledge and knowing (also termed epistemological dev

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